• August Wilhelm von Schlegel to Friedrich von Raumer

  • Place of Dispatch: Bonn · Place of Destination: Berlin · Date: 17.08.1829
Edition Status: Single collated printed full text with registry labelling, partially newly transcribed
    Metadata Concerning Header
  • Sender: August Wilhelm von Schlegel
  • Recipient: Friedrich von Raumer
  • Place of Dispatch: Bonn
  • Place of Destination: Berlin
  • Date: 17.08.1829
    Printed Text
  • Provider: Dresden, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek
  • OAI Id: 36609680X
  • Bibliography: Raumer, Friedrich von: Lebenserinnerungen und Briefwechsel. Zwei Teile. Bd. 2. Leipzig 1861, S. 301‒303.
  • Incipit: „[1] [Edierter Text von Friedrich von Raumer:]
    Bonn, den 17. August 1829.
    Ich habe Sie tausendmal um Verzeihung zu bitten, mein verehrtester Herr [...]“
    Manuscript
  • Provider: Kraków, Biblioteka Jagiellońska
    Language
  • German
  • French
    Editors
  • Bamberg, Claudia (Anteil Neutranskription)
  • Varwig, Olivia (Anteil Neutranskription)
[1] [Edierter Text von Friedrich von Raumer:]
Bonn, den 17. August 1829.
Ich habe Sie tausendmal um Verzeihung zu bitten, mein verehrtester Herr und Freund, daß ich Ihre Abhandlung so lange behalten habe. Auf eine so interessante Mittheilung durfte die Erwiderung doch nicht ganz inhaltsleer ausfallen, und ich konnte nie die Zeit finden, meine Gedanken nur einigermaßen zu ordnen. Ich habe mittlerweile zwei Ausgaben indischer Werke in die Welt ausgehen lassen; wenn Sie mir die Ehre erzeigen wollen, die lateinischen Vorreden dazu zu lesen, die Sie von Herrn Böckh oder Geheimrath Schulze haben können, so werden Sie mich entschuldigen. Seit vielen Jahren habe ich mich von der Kunstrichterei zurück in das Gebiet historischer und philologischer Forschung gezogen, und bin einheimischer in Asien als in Europa. Meine kritischen Schriften mußte ich denn doch sammeln, allein es hat kein Hahn darum gekräht. Meine Lorbern blühen nicht in Deutschland. Ueberhaupt machte ich niemals Anspruch darauf ein Theoretiker zu sein, et si, par ci par là, jʼai fait un peu de théorie, cʼétait à mon corps défendant et par la contagion de mes contemporains. ‒ Aber ein Kritiker habe ich mich allerdings bemüht zu sein, und zwar ein praktischer und kosmopolitischer. Dies habe ich auch jetzt noch nicht ganz aufgegeben. Sollte ich jemals auf mein Buch über die dramatische Literatur zurückkommen, so werde ich gewiß Ihre Abhandlung sorgfältig vergleichen, um zu sehen, was ich anders zu bestimmen habe. [2] Was die Poetik des Aristoteles betrifft, so will ich nur gestehen, daß Sie mich nicht sonderlich bekehrt haben. Wenn auch, wie Goethe oder Mephistopheles sagt, alle Theorie unvermeidlicherweise grau ist, so finde ich doch diese gar fahl und aschgrau. Wegen des den Philosophen schuldigen Respectes, ziehen wir uns am besten aus dem Handel, wenn wir annehmen, es sei ein Bruchstück von einem schlechten Collegienheft. Sollte aber Aristoteles die edle und göttliche Poesie wirklich so tumultuarisch abgefertigt haben, so müssen wir uns damit trösten, daß auch andere hochberühmte Philosophen darüber wenig Ersprießliches, oder daß sie gar viel Verkehrtes zu Markte gebracht. Aus Spinozaʼs Schriften sollte man wol gar nicht argwöhnen, daß es etwas dergleichen, eine Poesie und Kunst in der Welt gäbe. Und ist es mit Leibniz viel anders? Kant hat in der Kritik der Urtheilskraft einige schöne Blicke gethan, hinter dem Rücken seiner Metaphysik. Wenn er sich aber näher an die Ausübung hineinwagt, so fällt es so aus, daß es einen Stein erbarmen möchte. Fichte hat mir oft in der Poesie Unterricht ertheilen wollen: ich hörte es geduldig an, weil es mir nicht geringe Unterhaltung gewährte. Die einzigen, mit denen ich mich verständigen konnte, waren mein Bruder Friedrich, als er noch ein Denker war, und Schelling.
Wenn aber auch die Alten in die philosophische Theorie der Poesie nicht tief eingedrungen sind, so haben sie eine gute Entschuldigung. Sie kannten ja nichts als die griechische Poesie, welche, wiewol sehr vorzüglich, doch nicht frei von nationalen Eigenheiten und Beschränkungen war. Sie glauben, Aristoteles würde den Werth der romantischen Dichter anerkannt haben, wenn er sie hätte lesen können. Dies muß ich bezweifeln. Man kennt ja die albernen Einbildungen der Griechen von [3] dem durchgängigen Gegensatze zwischen Hellenen und Barbaren, und dem unermeßlichen Vorrange der ersten. Und gestehen Sie nur, in diesem Punkte war Aristoteles ein recht crasser und verstockter Grieche.
Die erste Grundlage einer philosophischen Theorie der Poesie und der schönen Künste muß wie mich dünkt, der Beweis sein, daß die Anlage dazu und das Bedürfniß ein wesentlicher Bestandtheil der menschlichen Natur sei. Hierbei thun wir denn doch wol besser von der Thatsache auszugehen, als wenn wir uns bei der Philosophie Raths erholen.
Also ist die allgemeine Geschichte der Poesie und der Künste eine nothwendige Vorarbeit. Das, worin die verschiedensten Zeitalter und Völker in ihren Forderungen übereinstimmen, gehört zum Wesen der Sache, das übrige ist individuelle und vielleicht zufällige Ausbildung. Ich habe mich bemüht, hierzu meinen Beitrag zu liefern, indem ich das Genialische auch unter einer fremden Hülle, besonders das verkannte oder vergessene, ans Licht zu ziehen strebte; und es ist mir damit auch ziemlich gelungen. Da konnte es nun leicht begegnen, das ich in der ersten Freude des neuen Fundes etwas überschätzte. Es ist mir lieb, wenn mein Urtheil durch Freunde berichtigt wird, und ich danke Ihnen für die mich betreffende Anmerkung Seite 77.
Gegen Ihr strenges Urtheil über den „Amphitruo“, besonders über den des Molière, den ich allerliebst finde, muß ich protestiren. ‒ Ueberlassen wir es doch den Methodisten, an so guten Späßen Aergerniß zu nehmen.
[4] Ich wiederhole meine Bitte, die lange verzögerte Zurücksendung und den geringen Gehalt dieses Briefes zu entschuldigen. Leben Sie recht wohl und behalten Sie mich in recht freundschaftlichem Andenken. Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung.
[Neutranskription:]
Ihr ergebenster
AWvSchlegel
Sie haben, wie ich sehe, alles mögliche über den Aristoteles gehabt, auch die Ausgabe des Marchese Haus, die mir der gute Mann noch selbst geschickt hat.
Hr. Löbell hat vorgestern eine recht hübsche Lateinische Antrittsrede gehalten.

An
Herrn Professor von Raumer
Hochwohlgeb.
in
Berlin
[1] [Edierter Text von Friedrich von Raumer:]
Bonn, den 17. August 1829.
Ich habe Sie tausendmal um Verzeihung zu bitten, mein verehrtester Herr und Freund, daß ich Ihre Abhandlung so lange behalten habe. Auf eine so interessante Mittheilung durfte die Erwiderung doch nicht ganz inhaltsleer ausfallen, und ich konnte nie die Zeit finden, meine Gedanken nur einigermaßen zu ordnen. Ich habe mittlerweile zwei Ausgaben indischer Werke in die Welt ausgehen lassen; wenn Sie mir die Ehre erzeigen wollen, die lateinischen Vorreden dazu zu lesen, die Sie von Herrn Böckh oder Geheimrath Schulze haben können, so werden Sie mich entschuldigen. Seit vielen Jahren habe ich mich von der Kunstrichterei zurück in das Gebiet historischer und philologischer Forschung gezogen, und bin einheimischer in Asien als in Europa. Meine kritischen Schriften mußte ich denn doch sammeln, allein es hat kein Hahn darum gekräht. Meine Lorbern blühen nicht in Deutschland. Ueberhaupt machte ich niemals Anspruch darauf ein Theoretiker zu sein, et si, par ci par là, jʼai fait un peu de théorie, cʼétait à mon corps défendant et par la contagion de mes contemporains. ‒ Aber ein Kritiker habe ich mich allerdings bemüht zu sein, und zwar ein praktischer und kosmopolitischer. Dies habe ich auch jetzt noch nicht ganz aufgegeben. Sollte ich jemals auf mein Buch über die dramatische Literatur zurückkommen, so werde ich gewiß Ihre Abhandlung sorgfältig vergleichen, um zu sehen, was ich anders zu bestimmen habe. [2] Was die Poetik des Aristoteles betrifft, so will ich nur gestehen, daß Sie mich nicht sonderlich bekehrt haben. Wenn auch, wie Goethe oder Mephistopheles sagt, alle Theorie unvermeidlicherweise grau ist, so finde ich doch diese gar fahl und aschgrau. Wegen des den Philosophen schuldigen Respectes, ziehen wir uns am besten aus dem Handel, wenn wir annehmen, es sei ein Bruchstück von einem schlechten Collegienheft. Sollte aber Aristoteles die edle und göttliche Poesie wirklich so tumultuarisch abgefertigt haben, so müssen wir uns damit trösten, daß auch andere hochberühmte Philosophen darüber wenig Ersprießliches, oder daß sie gar viel Verkehrtes zu Markte gebracht. Aus Spinozaʼs Schriften sollte man wol gar nicht argwöhnen, daß es etwas dergleichen, eine Poesie und Kunst in der Welt gäbe. Und ist es mit Leibniz viel anders? Kant hat in der Kritik der Urtheilskraft einige schöne Blicke gethan, hinter dem Rücken seiner Metaphysik. Wenn er sich aber näher an die Ausübung hineinwagt, so fällt es so aus, daß es einen Stein erbarmen möchte. Fichte hat mir oft in der Poesie Unterricht ertheilen wollen: ich hörte es geduldig an, weil es mir nicht geringe Unterhaltung gewährte. Die einzigen, mit denen ich mich verständigen konnte, waren mein Bruder Friedrich, als er noch ein Denker war, und Schelling.
Wenn aber auch die Alten in die philosophische Theorie der Poesie nicht tief eingedrungen sind, so haben sie eine gute Entschuldigung. Sie kannten ja nichts als die griechische Poesie, welche, wiewol sehr vorzüglich, doch nicht frei von nationalen Eigenheiten und Beschränkungen war. Sie glauben, Aristoteles würde den Werth der romantischen Dichter anerkannt haben, wenn er sie hätte lesen können. Dies muß ich bezweifeln. Man kennt ja die albernen Einbildungen der Griechen von [3] dem durchgängigen Gegensatze zwischen Hellenen und Barbaren, und dem unermeßlichen Vorrange der ersten. Und gestehen Sie nur, in diesem Punkte war Aristoteles ein recht crasser und verstockter Grieche.
Die erste Grundlage einer philosophischen Theorie der Poesie und der schönen Künste muß wie mich dünkt, der Beweis sein, daß die Anlage dazu und das Bedürfniß ein wesentlicher Bestandtheil der menschlichen Natur sei. Hierbei thun wir denn doch wol besser von der Thatsache auszugehen, als wenn wir uns bei der Philosophie Raths erholen.
Also ist die allgemeine Geschichte der Poesie und der Künste eine nothwendige Vorarbeit. Das, worin die verschiedensten Zeitalter und Völker in ihren Forderungen übereinstimmen, gehört zum Wesen der Sache, das übrige ist individuelle und vielleicht zufällige Ausbildung. Ich habe mich bemüht, hierzu meinen Beitrag zu liefern, indem ich das Genialische auch unter einer fremden Hülle, besonders das verkannte oder vergessene, ans Licht zu ziehen strebte; und es ist mir damit auch ziemlich gelungen. Da konnte es nun leicht begegnen, das ich in der ersten Freude des neuen Fundes etwas überschätzte. Es ist mir lieb, wenn mein Urtheil durch Freunde berichtigt wird, und ich danke Ihnen für die mich betreffende Anmerkung Seite 77.
Gegen Ihr strenges Urtheil über den „Amphitruo“, besonders über den des Molière, den ich allerliebst finde, muß ich protestiren. ‒ Ueberlassen wir es doch den Methodisten, an so guten Späßen Aergerniß zu nehmen.
[4] Ich wiederhole meine Bitte, die lange verzögerte Zurücksendung und den geringen Gehalt dieses Briefes zu entschuldigen. Leben Sie recht wohl und behalten Sie mich in recht freundschaftlichem Andenken. Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung.
[Neutranskription:]
Ihr ergebenster
AWvSchlegel
Sie haben, wie ich sehe, alles mögliche über den Aristoteles gehabt, auch die Ausgabe des Marchese Haus, die mir der gute Mann noch selbst geschickt hat.
Hr. Löbell hat vorgestern eine recht hübsche Lateinische Antrittsrede gehalten.

An
Herrn Professor von Raumer
Hochwohlgeb.
in
Berlin
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