• August Wilhelm von Schlegel to Lorenz Diefenbach

  • Place of Dispatch: Bonn · Place of Destination: Heidelberg · Date: 29.07.1831
Edition Status: Single collated printed full text without registry labelling not including a registry
    Metadata Concerning Header
  • Sender: August Wilhelm von Schlegel
  • Recipient: Lorenz Diefenbach
  • Place of Dispatch: Bonn
  • Place of Destination: Heidelberg
  • Date: 29.07.1831
  • Notations: Empfangsort erschlossen.
    Printed Text
  • Bibliography: Schröder, Edward: Zur Geschichte der altdeutschen Studien. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur 27 (1901), S. 222‒223.
  • Verlag: S. Hirzel Verlag
  • Incipit: „[1] Bonn d. 29 sten juli
    1831
    Ihr Schreiben vom 10ten Mai, mein hochgeehrtester Herr, habe ich erst vor kurzem empfangen, u danke [...]“
    Manuscript
  • Provider: Gießen, Justus-Liebig-Universität, Universitätsbibliothek
  • Classification Number: Nachlass Lorenz Diefenbach
  • Number of Pages: 4 S. auf Doppelbl., hs. m. U.
    Language
  • German
[1] Bonn d. 29 sten juli
1831
Ihr Schreiben vom 10ten Mai, mein hochgeehrtester Herr, habe ich erst vor kurzem empfangen, u danke Ihnen verbindlichst für das Geschenk Ihrer Schritt. Ehemals habe ich mich mit diesem Gegenstande ziemlich ausführlich beschäftigt, u eine kleine Schrift herausgegeben, die Ihnen vielleicht nicht bekannt geworden ist: Observations sur la langue et la littérature provençales. Paris 1818. Zu brieflichen Mittheilungen gebricht es mir an Muße, mündlich würde ich gern dazu bereit seyn. Ich will es nur gestehn, ich hätte Ihnen über Inhalt u Behandlung viele Einwendungen vorzutragen. Ich kann es z. B. nicht billigen; daß Sie die Provenzalische Sprache ausgelassen haben. Sie ist gerade die wichtigste unter allen Romanischen, weil sie die ältesten schriftlichen Denkmale aufzuweisen hat. Sie vermuthen p. 56 das u sey von den Römern in der frühesten Zeit wie ü gesprochen worden. Dieß ist aller Analogie entgegen. Dieser getrübte u unmusikalische Vocal ist kein primitiver Laut. Er fehlt in vielen alten Sprachen ganz: z. B. im Sanskrit, [2] im Gothischen, Angelsächsischen u.s.w. Im Hochdeutschen ist er nicht vor dem 12ten Jahrh. aufgekommen. Im Griechischen war die ursprüngliche Aussprache des Ypsilon auch u; dieß beweisen die Übergänge des Digamma oder Vau in den entsprechenden Vocal und umgekehrt. In der Aeolischen Mundart waren im Zeitalter der Lyriker noch Spuren hievon vorhanden. Die meisten Nachkommen der Römischen Provinzialen können bis auf den heutigen Tag das ü gar nicht aussprechen. Im westlichen Europa machen nur die Franzosen u einige Landschaften in Oberitalien eine Ausnahme. Die Engländer, als Nachkommen der Angelsachsen, können es auch nicht, wiewohl die Einmischung des Französischen die Annahme des Lautes vermuthen lassen möchte.
Sie schreiben Teutsch. Das ist um nichts besser, als wenn jemand tas, Ting, tenken, statt das, Ding, denken u.s.w. schriebe, weil vielleicht das verhärtete Organ seiner Landschaftsgenossen kein D aussprechen kann. Das Gesetz ist ganz einfach: die Gothische dentalis adspirata im Anlaute geht in [3] den entsprechenden Wörtern des Hochdeutschen in die media über. Der Name ist aber abzuleiten von dem Gothischen thiuda, Volk. Mein Freund J. Grimm zieht eine andre Ableitung vor, worüber ich ausnahmsweise nicht mit ihm einverstanden bin. Das Resultat bleibt dennoch dasselbe. Denn das von ihm angenommene Stammwort fängt ebenfalls mit einem theta an.
Jene Schreibung ist ferner ganz unhistorisch. Die ältesten Latein. Schriftsteller des Mittelalters schreiben immer Theotiscus oder Theudiscus; ebenso in verwandten Wörtern; z. B. niemals Teodoricus. Die Minnesänger, wiewohl aus Oberdeutschland gebürtig: Diutisch. Luther in der Original-Ausgabe: an den Adel deutscher Nation. Die Schreibung Teutsch ist erst im 16 ten Jahrh. unter vielen andern skoliographischen Misgeburten aufgekommen. Unsre gründlichsten Sprachlehrer, unsre besten Dichter haben sie verworfen.
Bei allen die vergleichende Sprachkunde betreffenden Untersuchungen kann man nicht vorsichtig genug zu Werke gehn: Schritt vor Schritt, immer mit urkundlichen Beweisen in [4] der Hand; nur so kommt man zu sichern Resultaten. Hierin ist J. Grimm das große unübertreffliche Muster.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ew. Wohlgeboren
ergebenster
AWvSchlegel
[1] Bonn d. 29 sten juli
1831
Ihr Schreiben vom 10ten Mai, mein hochgeehrtester Herr, habe ich erst vor kurzem empfangen, u danke Ihnen verbindlichst für das Geschenk Ihrer Schritt. Ehemals habe ich mich mit diesem Gegenstande ziemlich ausführlich beschäftigt, u eine kleine Schrift herausgegeben, die Ihnen vielleicht nicht bekannt geworden ist: Observations sur la langue et la littérature provençales. Paris 1818. Zu brieflichen Mittheilungen gebricht es mir an Muße, mündlich würde ich gern dazu bereit seyn. Ich will es nur gestehn, ich hätte Ihnen über Inhalt u Behandlung viele Einwendungen vorzutragen. Ich kann es z. B. nicht billigen; daß Sie die Provenzalische Sprache ausgelassen haben. Sie ist gerade die wichtigste unter allen Romanischen, weil sie die ältesten schriftlichen Denkmale aufzuweisen hat. Sie vermuthen p. 56 das u sey von den Römern in der frühesten Zeit wie ü gesprochen worden. Dieß ist aller Analogie entgegen. Dieser getrübte u unmusikalische Vocal ist kein primitiver Laut. Er fehlt in vielen alten Sprachen ganz: z. B. im Sanskrit, [2] im Gothischen, Angelsächsischen u.s.w. Im Hochdeutschen ist er nicht vor dem 12ten Jahrh. aufgekommen. Im Griechischen war die ursprüngliche Aussprache des Ypsilon auch u; dieß beweisen die Übergänge des Digamma oder Vau in den entsprechenden Vocal und umgekehrt. In der Aeolischen Mundart waren im Zeitalter der Lyriker noch Spuren hievon vorhanden. Die meisten Nachkommen der Römischen Provinzialen können bis auf den heutigen Tag das ü gar nicht aussprechen. Im westlichen Europa machen nur die Franzosen u einige Landschaften in Oberitalien eine Ausnahme. Die Engländer, als Nachkommen der Angelsachsen, können es auch nicht, wiewohl die Einmischung des Französischen die Annahme des Lautes vermuthen lassen möchte.
Sie schreiben Teutsch. Das ist um nichts besser, als wenn jemand tas, Ting, tenken, statt das, Ding, denken u.s.w. schriebe, weil vielleicht das verhärtete Organ seiner Landschaftsgenossen kein D aussprechen kann. Das Gesetz ist ganz einfach: die Gothische dentalis adspirata im Anlaute geht in [3] den entsprechenden Wörtern des Hochdeutschen in die media über. Der Name ist aber abzuleiten von dem Gothischen thiuda, Volk. Mein Freund J. Grimm zieht eine andre Ableitung vor, worüber ich ausnahmsweise nicht mit ihm einverstanden bin. Das Resultat bleibt dennoch dasselbe. Denn das von ihm angenommene Stammwort fängt ebenfalls mit einem theta an.
Jene Schreibung ist ferner ganz unhistorisch. Die ältesten Latein. Schriftsteller des Mittelalters schreiben immer Theotiscus oder Theudiscus; ebenso in verwandten Wörtern; z. B. niemals Teodoricus. Die Minnesänger, wiewohl aus Oberdeutschland gebürtig: Diutisch. Luther in der Original-Ausgabe: an den Adel deutscher Nation. Die Schreibung Teutsch ist erst im 16 ten Jahrh. unter vielen andern skoliographischen Misgeburten aufgekommen. Unsre gründlichsten Sprachlehrer, unsre besten Dichter haben sie verworfen.
Bei allen die vergleichende Sprachkunde betreffenden Untersuchungen kann man nicht vorsichtig genug zu Werke gehn: Schritt vor Schritt, immer mit urkundlichen Beweisen in [4] der Hand; nur so kommt man zu sichern Resultaten. Hierin ist J. Grimm das große unübertreffliche Muster.
Mit ausgezeichneter Hochachtung
Ew. Wohlgeboren
ergebenster
AWvSchlegel
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