• August Wilhelm von Schlegel to Julie Schlegel

  • Place of Dispatch: Genf · Place of Destination: Hannover · Date: 16.12.1805
Edition Status: Single collated printed full text with registry labelling
    Metadata Concerning Header
  • Sender: August Wilhelm von Schlegel
  • Recipient: Julie Schlegel
  • Place of Dispatch: Genf
  • Place of Destination: Hannover
  • Date: 16.12.1805
  • Notations: Empfangsort erschlossen.
    Printed Text
  • Provider: Dresden, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek
  • OAI Id: 343347008
  • Bibliography: Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner. Bd. 1. Zürich u.a. 1930, S. 194‒195.
  • Incipit: „Genf d. 16 Dec. [180]5
    Werden Sie, meine liebste Schwester, nach einem so langen Stillschweigen noch eine Antwort von mir auf Ihren [...]“
    Manuscript
  • Provider: Leipzig, Universitätsbibliothek
  • Classification Number: II A IV 1582
  • Number of Pages: 8 S. und Briefumschlag von beiden Seiten
    Language
  • German
Genf d. 16 Dec. [180]5
Werden Sie, meine liebste Schwester, nach einem so langen Stillschweigen noch eine Antwort von mir auf Ihren liebenswürdigen Brief lesen wollen? Ich muß darauf rechnen, daß man mich als einen anerkannt nachläßigen Briefschreiber entschuldigt. Welch ein langsames und unvollständiges Mittel der Mittheilung sind Briefe! Könnte ich vertraulich neben Ihnen auf Ihrem Sopha sitzen, seit ich zuletzt glückliche Stunden in Ihrem Kreise zubrachte, haben wir so manches erlebt, und ich insbesondre so manches neue gesehen, daß wir viele Stunden immer gleich lebhaft durchschwatzen würden, ohne den Stoff unsrer Gespräche zu erschöpfen. Zuvörderst würde ich mir recht umständlich erzählen lassen, wie es mit Ihrer Gesundheit steht, und ob die Cur des Magnetismus immer noch den gewünschten Erfolg hat. Sie durften nicht besorgen, daß ich Anstoß daran nehmen würde. Ich habe immer es für widersinnig gehalten, Erfahrungen, Thatsachen deswegen zu läugnen, weil man sie nicht erklären kann. Im Gegentheil muß man voraussetzen, daß die Natur voll von Beziehungen ist deren Grund wir nicht einzusehen vermögen, und daß sie auch viel verborgne Heilskräfte enthält. Seit Lavater, der unbillig darüber angegriffen worden, haben viel glaubwürdige Männer die Erfahrungen über den Magnetismus bestätigt. Frau von St.[aël], die sehr geistreich zu spotten weiß, beschuldigt mich zwar, ich sey überall bey der Hand wo es etwas zu glauben giebt: aber dieß ist doch nicht ohne Einschränkung; ein Glaube muß entweder etwas wohlthätiges oder etwas poetisches haben, wenn ich mich dazu bekennen soll, und die Heilkraft des Magnetismus vereinigt in der That beydes.
Die Mutter hat mir geschrieben, daß die Pyrmonter Badecur leider nicht gehörig gewirkt, ich hoffe aber doch, daß dieses Ihr Befinden nicht wesentlich zurückgesetzt hat.
Alsdann müßten Sie mir, wenn ich bey Ihnen wäre, recht viel von Ihrem häuslichen Leben und Vergnügungen, von Carls Geschäften, Lage und Aussichten, von der Erziehung Ihrer lieben Kleinen u.s.w. erzählen. Ich machte Ihnen dagegen die Reisebeschreibung durch einen Theil der Schweiz und Italien, und schilderte Ihnen eine Menge merkwürdiger Menschen die ich kennen gelernt. Seit der Rückkehr aus Italien habe ich mich sehr ruhig und zuweilen selbst einsam in Coppet gehalten, nur im Spätherbst habe ich eine Fußwanderung um den Genfer See gemacht, und so ziemlich die ganze Szene der neuen Heloise, die furchtbaren Felsen von Maillerie, das lachende Vevey und Clarence besucht. – Seit etwa sechs Wochen sind wir in der Stadt, und sehn ziemlich viel Gesellschaft. Das Haus meiner Freundin ist immer der Versammlungsort der geistreichsten Menschen die sich in der Stadt wo sie ist, befinden. Dazu kommt eine ebenfalls gesellige Unterhaltung, das Theater. Wir spielen nämlich selbst, Frau von St.[aël] hat ein außerordentliches Talent, und wird es gleich bey Eröffnung in Voltaireʼs Merope entfalten. Wir sind mit größtem Eifer mit den Wiederhohlungen und andern Vorbereitungen beschäftigt. Ich bin der allgemeine Rathgeber über das Costum, und wiewohl ich Französische Verse zu sagen habe, hoffe ich in Tracht und Gebehrde völlig einen Griechen darzustellen. Die Schwierigkeit in einer fremden Sprache das Pathetische mit völliger Freyheit und ohne Einmischung fremder störender Accente vorzutragen, macht daß ich für jetzt keine Hauptrolle übernehmen kann, wiewohl man findet, daß man in meiner Aussprache kaum einen Ausländer erkennt. Ich spiele daher für jetzt Meropeʼs Vertrauten Eurykles; vermuthlich geben wir nächstens Philoctetes nach dem Griechischen von La Harpe, wo ich den Ulysses vorstellen und einen schönen Bart haben werde.
So zerstreuen wir uns unter den politischen Stürmen, welche Europa umgestalten zu wollen scheinen, deren Wirkungen und weitern Erfolg man aber geduldig ansehn muß, weil man eben nichts dazu thun kann. Ich wünsche über den neuen Zustand unsers Vaterlandes umständlichere Nachrichten zu haben als ich aus den Zeitungen abnehmen kann, und Sie werden mich sehr verbinden, wenn Sie mir nächstens ein Bild davon entwerfen, und erzählen wollten was Sie alles an sich haben vorüberziehen sehn.
Hoffentlich haben Sie meine Elegie über Rom erhalten, wenigstens habe ich Auftrag ertheilt Ihnen und Carl ein gemeinschaftliches Exemplar zu schicken. Melden Sie mir doch auch, was Sie von öffentlichen oder Privaturtheilen darüber vernehmen. Es ist das erste öffentliche Wort, das ich meinem deutschen Vaterlande aus der Fremde zusende, und ich wünsche es möge einigen Eindruck machen. Freylich ist der Zeitpunkt einer großen Spannung auf die öffentlichen Begebenheiten nicht günstig für die Erscheinung eines Gedichts.
Leben Sie recht wohl, ich umarme Sie und Carl in Gedanken aufs brüderlichste, und herze Ihre liebe Kleine. Den inliegenden Brief bitte ich an meine Mutter zu besorgen und ihr aus dem meinigen mitzutheilen was jener nicht enthält.
Ihr zärtlich gesinnter Bruder
A. W. S.
Genf d. 16 Dec. [180]5
Werden Sie, meine liebste Schwester, nach einem so langen Stillschweigen noch eine Antwort von mir auf Ihren liebenswürdigen Brief lesen wollen? Ich muß darauf rechnen, daß man mich als einen anerkannt nachläßigen Briefschreiber entschuldigt. Welch ein langsames und unvollständiges Mittel der Mittheilung sind Briefe! Könnte ich vertraulich neben Ihnen auf Ihrem Sopha sitzen, seit ich zuletzt glückliche Stunden in Ihrem Kreise zubrachte, haben wir so manches erlebt, und ich insbesondre so manches neue gesehen, daß wir viele Stunden immer gleich lebhaft durchschwatzen würden, ohne den Stoff unsrer Gespräche zu erschöpfen. Zuvörderst würde ich mir recht umständlich erzählen lassen, wie es mit Ihrer Gesundheit steht, und ob die Cur des Magnetismus immer noch den gewünschten Erfolg hat. Sie durften nicht besorgen, daß ich Anstoß daran nehmen würde. Ich habe immer es für widersinnig gehalten, Erfahrungen, Thatsachen deswegen zu läugnen, weil man sie nicht erklären kann. Im Gegentheil muß man voraussetzen, daß die Natur voll von Beziehungen ist deren Grund wir nicht einzusehen vermögen, und daß sie auch viel verborgne Heilskräfte enthält. Seit Lavater, der unbillig darüber angegriffen worden, haben viel glaubwürdige Männer die Erfahrungen über den Magnetismus bestätigt. Frau von St.[aël], die sehr geistreich zu spotten weiß, beschuldigt mich zwar, ich sey überall bey der Hand wo es etwas zu glauben giebt: aber dieß ist doch nicht ohne Einschränkung; ein Glaube muß entweder etwas wohlthätiges oder etwas poetisches haben, wenn ich mich dazu bekennen soll, und die Heilkraft des Magnetismus vereinigt in der That beydes.
Die Mutter hat mir geschrieben, daß die Pyrmonter Badecur leider nicht gehörig gewirkt, ich hoffe aber doch, daß dieses Ihr Befinden nicht wesentlich zurückgesetzt hat.
Alsdann müßten Sie mir, wenn ich bey Ihnen wäre, recht viel von Ihrem häuslichen Leben und Vergnügungen, von Carls Geschäften, Lage und Aussichten, von der Erziehung Ihrer lieben Kleinen u.s.w. erzählen. Ich machte Ihnen dagegen die Reisebeschreibung durch einen Theil der Schweiz und Italien, und schilderte Ihnen eine Menge merkwürdiger Menschen die ich kennen gelernt. Seit der Rückkehr aus Italien habe ich mich sehr ruhig und zuweilen selbst einsam in Coppet gehalten, nur im Spätherbst habe ich eine Fußwanderung um den Genfer See gemacht, und so ziemlich die ganze Szene der neuen Heloise, die furchtbaren Felsen von Maillerie, das lachende Vevey und Clarence besucht. – Seit etwa sechs Wochen sind wir in der Stadt, und sehn ziemlich viel Gesellschaft. Das Haus meiner Freundin ist immer der Versammlungsort der geistreichsten Menschen die sich in der Stadt wo sie ist, befinden. Dazu kommt eine ebenfalls gesellige Unterhaltung, das Theater. Wir spielen nämlich selbst, Frau von St.[aël] hat ein außerordentliches Talent, und wird es gleich bey Eröffnung in Voltaireʼs Merope entfalten. Wir sind mit größtem Eifer mit den Wiederhohlungen und andern Vorbereitungen beschäftigt. Ich bin der allgemeine Rathgeber über das Costum, und wiewohl ich Französische Verse zu sagen habe, hoffe ich in Tracht und Gebehrde völlig einen Griechen darzustellen. Die Schwierigkeit in einer fremden Sprache das Pathetische mit völliger Freyheit und ohne Einmischung fremder störender Accente vorzutragen, macht daß ich für jetzt keine Hauptrolle übernehmen kann, wiewohl man findet, daß man in meiner Aussprache kaum einen Ausländer erkennt. Ich spiele daher für jetzt Meropeʼs Vertrauten Eurykles; vermuthlich geben wir nächstens Philoctetes nach dem Griechischen von La Harpe, wo ich den Ulysses vorstellen und einen schönen Bart haben werde.
So zerstreuen wir uns unter den politischen Stürmen, welche Europa umgestalten zu wollen scheinen, deren Wirkungen und weitern Erfolg man aber geduldig ansehn muß, weil man eben nichts dazu thun kann. Ich wünsche über den neuen Zustand unsers Vaterlandes umständlichere Nachrichten zu haben als ich aus den Zeitungen abnehmen kann, und Sie werden mich sehr verbinden, wenn Sie mir nächstens ein Bild davon entwerfen, und erzählen wollten was Sie alles an sich haben vorüberziehen sehn.
Hoffentlich haben Sie meine Elegie über Rom erhalten, wenigstens habe ich Auftrag ertheilt Ihnen und Carl ein gemeinschaftliches Exemplar zu schicken. Melden Sie mir doch auch, was Sie von öffentlichen oder Privaturtheilen darüber vernehmen. Es ist das erste öffentliche Wort, das ich meinem deutschen Vaterlande aus der Fremde zusende, und ich wünsche es möge einigen Eindruck machen. Freylich ist der Zeitpunkt einer großen Spannung auf die öffentlichen Begebenheiten nicht günstig für die Erscheinung eines Gedichts.
Leben Sie recht wohl, ich umarme Sie und Carl in Gedanken aufs brüderlichste, und herze Ihre liebe Kleine. Den inliegenden Brief bitte ich an meine Mutter zu besorgen und ihr aus dem meinigen mitzutheilen was jener nicht enthält.
Ihr zärtlich gesinnter Bruder
A. W. S.
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