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Januar 1812<br>Liebe Freundin!<br>Ich bin sehr froh, von Ihnen einen langen Brief zu haben. Sie schreiben gar nichts über Ihr Befinden; das läßt mich hoffen, daß wenigstens das neben der Krankheit herlaufende Übelbefinden aufgehört hat.<br>Zweifellos verdient die Nachricht über Herrn de St. P[riest] die größte Aufmerksamkeit. Er tut mir leid, aber ich hätte im Interesse seines Ansehens gewünscht, er hätte weniger darauf gesehen, die Stellung zu behalten, die er doch verlieren mußte. Bestimmt ist der Briefwechsel mit seinen Söhnen der wahre Grund zu dieser Maßregelung; man fürchtet eben den Scharfblick des alten Diplomaten für die inneren Verhältnisse des Reiches und die Aufklärungen, die er darüber nach dem Norden schicken könnte. Vielleicht war er so unbesonnen, seine Briefe auf einem französischen Postamt aufzugeben und von dort unmittelbar zu empfangen. Das alles sieht doch übrigens nach einem nahen Kriege aus.<br>Ich hatte schon vorausgesehen, daß meine Briefe sehr wenig inhaltsreich werden würden – man weiß hier nichts und sagt auch nichts. Herr Mousson ist in Basel; Herr von Lichtenthurm, der gewöhnlich recht gut orientiert ist, ist noch abwesend. Man behauptet, der neuerliche Rückgang des österreichischen Wechselkurses habe keinen Zusammenhang mit dem Finanzkredit, auch nicht mit der politischen Lage, sondern sei einzig und allein auf die Aktivität des Levantehandels zurückzuführen, der große Summen baren Geldes erfordere. Man behauptet, es fehle in Fr[ankreich] an Getreide, und die Regierung habe den Import von Waren aus den Kolonien gestattet, wenn die englischen Schiffe bis zur Hälfte ihrer Ladung Getreide mitnähmen.<br>Herrn von Falk habe ich noch nicht besucht. Genau wie das erste Mal fiel ich bei Herrn von Freudenreich in ein Mittagessen, das er den Abgeordneten gab – das scheint die Hauptbeschäftigung bei den Verhandlungen zu sein. Man hofft stark, von dem Kanton Tessin nur einen kleinen Distrikt opfern zu müssen – die Stellung von Hilfstruppen wird wahrscheinlich so geregelt, daß jährlich 3000 Rekruten zu stellen sind.<br>Die scheußliche Geschichte mit Herrn Becker ist nur zu wahr – der Zeitungshändler hier hat sie erfahren – es ist eine Warnung für ihn.<br>Es macht mir großen Spaß zu hören, daß der sarmatische Cupido vergeblich seine liebenswürdigen Blicke wie Pfeile nach W[ien] schießt. Wieder ein Beweis für die hartnäckig immer von neuem in dieser Stadt auftauchenden Vermutungen, von denen ich Ihnen schon sprach.<br>Ich habe nach allen Seiten hin Auftrag gegeben, mir das Buch von Goethe zu beschaffen, und werde es sicher bald bekommen. Inzwischen hat man mir ein Exemplar geliehen. – Es macht mir große Freude, aber ich weiß nicht, ob es für Sie dasselbe Interesse hat. Es gibt ein Bild der äußeren Welt, so wie sie sich dem Kinde darbietet, ein Bild, das mit wunderbarer Klarheit, Heiterkeit und Eleganz gezeichnet ist, aber es fehlt an Innigkeit; die kindliche Phantasie, die Goethe aus seiner Erinnerung wiederherzustellen sich bemüht, ist eben ganz auf die Außenwelt gerichtet. Dann bringt das Buch historische Szenen aus Deutschland, die für mich mehr Bedeutung haben als für Sie. Eigenartig ist, daß der Mensch, der so begann, in seinen Jünglingsjahren der Held der melancholischen Empfindsamkeit unserer Zeit wurde, und ich bin sehr gespannt darauf, zu lesen, wie er in seiner Schilderung diese Wandlung darstellen wird.<br>Ich danke August sehr für seine liebenswürdigen Zeilen; ich werde ihm mit der nächsten Post antworten. 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Sie heiratete 1786 den schwedischen Diplomaten Erik Magnus von Staël-Holstein in Paris. Die Eheleute lebten von Anfang an getrennt. Zu ihren ersten Veröffentlichungen zählten die „Lettres sur les ecrits et le charactère de J.-J. Rousseau“, die 1788 erschienen. Neben der Tätigkeit als Schriftstellerin wurde Germaine de Staël-Holstein als einflussreiche Salonnière berühmt. Unter ihrem politischen Einfluss stand u.a. Benjamin Constant, mit dem sie eine langjährige Beziehung führte und der der Vater ihrer Tochter Albertine war. Ihr politischer Liberalismus und die Befürwortung einer konstitutionellen Monarchie führten 1792 zu ihrer Verbannung ins schweizerische Exil. Gemeinsam mit ihren Kindern bezog sie Schloss Coppet am Genfer See, das nun zum Treffpunkt Intellektueller und Künstler ganz Europas avancierte. Nur selten war der Schriftstellerin der Aufenthalt in Frankreich gestattet. Während ausgedehnter Reisen in den Folgejahren nach Deutschland (1803/04 und 1808) und Italien (1805) war sie zumeist in Begleitung ihres Freundes und Hauslehrers AWS sowie Benjamin Constants. Großen Erfolg hatte sie mit ihrem Werk „De LʼAllemagne“ (1810) sowie mit ihrem Roman „Corinne ou LʼItalie“ (1807) und politischen Schriften. Die Verfolgung durch die französische Regierung veranlasste Germaine de Staël-Holstein am 23. Mai 1812 zur Flucht über die Schweiz nach Österreich, Russland und schließlich Schweden. Anschließend hielten sie sich von 1813 bis 1814 in London auf. Nach der Rückkehr in die Schweiz heiratete de Staël-Holstein 1816 den Vater ihres jüngsten Kindes, John Rocca.', '39_quellen' => 'WBIS@http://db.saur.de/WBIS/basicSearch.jsf@D834-624-6@ extern@Roger Paulin: August Wilhelm Schlegel. Cosmopolitan of Art and Poetry. Cambridge 2016.@ extern@Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Ges. u. erl. d. Josef Körner. 2. Bd. Die Erläuterungen. Zürich u.a. 1930, S. 121, 138. 138-139.@ extern@Hofmann, Etienne „Staël, Germaine de“, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/f/F16051.php@ Wikipedia@http://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Louise_Germaine_de_Sta%C3%ABl@', '39_beziehung' => 'AWS machte gegen Ende des Jahres 1804 in Berlin die persönliche Bekanntschaft mit Germaine de Staël-Holstein. Als Hauslehrer ihrer Kinder gehörte er zum Coppeter Zirkel. Er begleitete Mme de Staël-Holstein auf ihren zahlreichen Reisen und war auch als ihr Berater im Hinblick auf die deutsche Literatur tätig; sein wichtiger Anteil an ihrem bedeutendsten Werk „De LʼAllemagne“ (1810) ist heute unbestritten. Auch Friedrich von Schlegel gehörte zu den zahlreichen Gästen auf Schloss Coppet. In Zeiten des politischen Umbruches begleitete AWS die Familie de Staël-Holstein durch Europa. Den Kindern Mme de Staël-Holsteins blieb AWS auch nach ihrem Tod verbunden. 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Man hofft stark, von dem Kanton Tessin nur einen kleinen Distrikt opfern zu müssen – die Stellung von Hilfstruppen wird wahrscheinlich so geregelt, daß jährlich 3000 Rekruten zu stellen sind.<br>Die scheußliche Geschichte mit Herrn Becker ist nur zu wahr – der Zeitungshändler hier hat sie erfahren – es ist eine Warnung für ihn.<br>Es macht mir großen Spaß zu hören, daß der sarmatische Cupido vergeblich seine liebenswürdigen Blicke wie Pfeile nach W[ien] schießt. Wieder ein Beweis für die hartnäckig immer von neuem in dieser Stadt auftauchenden Vermutungen, von denen ich Ihnen schon sprach.<br>Ich habe nach allen Seiten hin Auftrag gegeben, mir das Buch von Goethe zu beschaffen, und werde es sicher bald bekommen. Inzwischen hat man mir ein Exemplar geliehen. – Es macht mir große Freude, aber ich weiß nicht, ob es für Sie dasselbe Interesse hat. 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Sie heiratete 1786 den schwedischen Diplomaten Erik Magnus von Staël-Holstein in Paris. Die Eheleute lebten von Anfang an getrennt. Zu ihren ersten Veröffentlichungen zählten die „Lettres sur les ecrits et le charactère de J.-J. Rousseau“, die 1788 erschienen. Neben der Tätigkeit als Schriftstellerin wurde Germaine de Staël-Holstein als einflussreiche Salonnière berühmt. Unter ihrem politischen Einfluss stand u.a. Benjamin Constant, mit dem sie eine langjährige Beziehung führte und der der Vater ihrer Tochter Albertine war. Ihr politischer Liberalismus und die Befürwortung einer konstitutionellen Monarchie führten 1792 zu ihrer Verbannung ins schweizerische Exil. Gemeinsam mit ihren Kindern bezog sie Schloss Coppet am Genfer See, das nun zum Treffpunkt Intellektueller und Künstler ganz Europas avancierte. Nur selten war der Schriftstellerin der Aufenthalt in Frankreich gestattet. 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Sonntag, den 5. Januar 1812
Liebe Freundin!
Ich bin sehr froh, von Ihnen einen langen Brief zu haben. Sie schreiben gar nichts über Ihr Befinden; das läßt mich hoffen, daß wenigstens das neben der Krankheit herlaufende Übelbefinden aufgehört hat.
Zweifellos verdient die Nachricht über Herrn de St. P[riest] die größte Aufmerksamkeit. Er tut mir leid, aber ich hätte im Interesse seines Ansehens gewünscht, er hätte weniger darauf gesehen, die Stellung zu behalten, die er doch verlieren mußte. Bestimmt ist der Briefwechsel mit seinen Söhnen der wahre Grund zu dieser Maßregelung; man fürchtet eben den Scharfblick des alten Diplomaten für die inneren Verhältnisse des Reiches und die Aufklärungen, die er darüber nach dem Norden schicken könnte. Vielleicht war er so unbesonnen, seine Briefe auf einem französischen Postamt aufzugeben und von dort unmittelbar zu empfangen. Das alles sieht doch übrigens nach einem nahen Kriege aus.
Ich hatte schon vorausgesehen, daß meine Briefe sehr wenig inhaltsreich werden würden – man weiß hier nichts und sagt auch nichts. Herr Mousson ist in Basel; Herr von Lichtenthurm, der gewöhnlich recht gut orientiert ist, ist noch abwesend. Man behauptet, der neuerliche Rückgang des österreichischen Wechselkurses habe keinen Zusammenhang mit dem Finanzkredit, auch nicht mit der politischen Lage, sondern sei einzig und allein auf die Aktivität des Levantehandels zurückzuführen, der große Summen baren Geldes erfordere. Man behauptet, es fehle in Fr[ankreich] an Getreide, und die Regierung habe den Import von Waren aus den Kolonien gestattet, wenn die englischen Schiffe bis zur Hälfte ihrer Ladung Getreide mitnähmen.
Herrn von Falk habe ich noch nicht besucht. Genau wie das erste Mal fiel ich bei Herrn von Freudenreich in ein Mittagessen, das er den Abgeordneten gab – das scheint die Hauptbeschäftigung bei den Verhandlungen zu sein. Man hofft stark, von dem Kanton Tessin nur einen kleinen Distrikt opfern zu müssen – die Stellung von Hilfstruppen wird wahrscheinlich so geregelt, daß jährlich 3000 Rekruten zu stellen sind.
Die scheußliche Geschichte mit Herrn Becker ist nur zu wahr – der Zeitungshändler hier hat sie erfahren – es ist eine Warnung für ihn.
Es macht mir großen Spaß zu hören, daß der sarmatische Cupido vergeblich seine liebenswürdigen Blicke wie Pfeile nach W[ien] schießt. Wieder ein Beweis für die hartnäckig immer von neuem in dieser Stadt auftauchenden Vermutungen, von denen ich Ihnen schon sprach.
Ich habe nach allen Seiten hin Auftrag gegeben, mir das Buch von Goethe zu beschaffen, und werde es sicher bald bekommen. Inzwischen hat man mir ein Exemplar geliehen. – Es macht mir große Freude, aber ich weiß nicht, ob es für Sie dasselbe Interesse hat. Es gibt ein Bild der äußeren Welt, so wie sie sich dem Kinde darbietet, ein Bild, das mit wunderbarer Klarheit, Heiterkeit und Eleganz gezeichnet ist, aber es fehlt an Innigkeit; die kindliche Phantasie, die Goethe aus seiner Erinnerung wiederherzustellen sich bemüht, ist eben ganz auf die Außenwelt gerichtet. Dann bringt das Buch historische Szenen aus Deutschland, die für mich mehr Bedeutung haben als für Sie. Eigenartig ist, daß der Mensch, der so begann, in seinen Jünglingsjahren der Held der melancholischen Empfindsamkeit unserer Zeit wurde, und ich bin sehr gespannt darauf, zu lesen, wie er in seiner Schilderung diese Wandlung darstellen wird.
Ich danke August sehr für seine liebenswürdigen Zeilen; ich werde ihm mit der nächsten Post antworten. Seine Aufträge, die verhindern sollen, daß ich um die Auszüge der Kanzlei bitte, kommen zu spät: eben schickt sie mir Herr von Freudenreich mit dem beiliegenden Schreiben. Es handelt sich nur um eine geringe Ausgabe, und es ist ganz gut, doppelte Abschriften zu haben.
Ich verstehe nicht, wie man in Genf Bescheid wissen will über das, was ich vergesse oder woran ich denke. Ich gehe etwas mehr in Gesellschaft als in Genf, weil ich kein Zuhause habe. Die Abendgesellschaften sind hier nicht anspruchsvoll; sie haben ein mehr kleinstädtisches Gepräge, aber dafür sind sie auch zwangloser – es wird immer so eingerichtet, daß man mit der Person zusammensitzt, die einen am meisten zu interessieren scheint, und dann bringt man die Dame nach Hause – das ist so die Regel...
Vergessen Sie nicht, Fräulein Fanny und ihren Eltern das Interesse zu bekunden, das ich an allem nehme, was sie betrifft. Ich freue mich, daß sie sich in C. niederlassen wird; so wird diese Stadt berühmt werden für die Schönheit ihrer Frauen.
Zählen Sie in jedem Augenblick auf mich, liebe Freundin, als wenn ich bei Ihnen wäre, und lassen Sie sich nichts über mich in den Kopf setzen.
Liebe Freundin!
Ich bin sehr froh, von Ihnen einen langen Brief zu haben. Sie schreiben gar nichts über Ihr Befinden; das läßt mich hoffen, daß wenigstens das neben der Krankheit herlaufende Übelbefinden aufgehört hat.
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· Original , 05.01.1812