• August Wilhelm von Schlegel to Anne Louise Germaine de Staël-Holstein

  • Place of Dispatch: Lausanne · Place of Destination: Unknown · Date: 25.12.1811
Edition Status: Single collated printed full text without registry labelling not including a registry
    Metadata Concerning Header
  • Sender: August Wilhelm von Schlegel
  • Recipient: Anne Louise Germaine de Staël-Holstein
  • Place of Dispatch: Lausanne
  • Place of Destination: Unknown
  • Date: 25.12.1811
  • Notations: Aus rechtlichen Gründen wird vorerst die deutsche Übersetzung angezeigt.
    Printed Text
  • Bibliography: Pange, Pauline de: August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël. Eine schicksalhafte Begegnung. Nach unveröffentlichten Briefen erzählt von Pauline Gräfin de Pange. Dt. Ausg. von Willy Grabert. Hamburg 1940, S. 263–264.
  • Incipit: „Ich hätte Ihnen gern vor meiner Abreise aus C[oppet] geschrieben, teure Freundin, aber ich war bis zum letzten Augenblick mit Arbeiten [...]“
    Language
  • German
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Ich hätte Ihnen gern vor meiner Abreise aus C[oppet] geschrieben, teure Freundin, aber ich war bis zum letzten Augenblick mit Arbeiten überhäuft. Um mich gegen Ihre Vorwürfe zu rechtfertigen, muß ich Ihnen sagen, daß Sie in der Tat jedesmal traurig sind, wenn jemand abreist, daß Sie sich aber nicht freuen, wenn man ankommt, und das ist viel schlimmer. Ferner äußern sich meine Aufregungen niemals zur rechten Zeit, sondern immer gerade dann, wenn sie mir nichts nützen und andere vor den Kopf stoßen.
Ich habe gestern mit Herrn von der Lahr zu Abend gegessen. Ich fand seine Art viel besser, als ich gedacht hatte; besonders war die Betonung, mit der er, wie man Ihnen sagte, seine Dummheiten zum besten gäbe, eine oratorische Ausschmückung ›des Berichtes‹. Er schielt beinahe, sucht aber trotzdem schlau auszusehen. Er hat seine Angelegenheit überhaupt nicht erwähnt, obwohl er mich nicht kannte. Im Gegenteil er sprach von epischer und lyrischer Poesie und behauptete einem Franzosen gegenüber, daß die wahre Poesie nicht in der Kunst des Versemachens, sondern in der Erfindungsgabe läge und daß man folglich Kotzebue einen Dichter nennen müsse. Sein Pariser Rechtsanwalt ist vor etwa vierzehn Tagen abgereist, er selber fährt heute fort, um nach Darmstadt zurückzukehren – der Erbvergleich in dem Prozeß ist also hinfällig geworden.
Nichts ist einfacher zu verstehen als das Wort Saint-Martins – er hat sich ein wenig über Biot lustig gemacht, den er gleich von Anfang an bekämpfte: er sprach lediglich zu einem Mathematiker in Begriffen seiner Wissenschaft. Die irrationalen Zahlen sind Sinnbilder des Bösen, weil ihre Grundlage sich in sich selbst widerspricht und für den Verstand unbegreiflich bleibt. Im übrigen widersetzt sich diese widerspenstige Art von Zahlen jedem Fortschreiten zu einer Zahl höherer Ordnung; denn um eine solche Zahl zu potenzieren, muß man sie zuerst in ihren Ursprungszustand, die Wurzel, zurückentwickeln und dann nochmals mit der Wurzel multiplizieren. Nun kann man aber bei den irrationalen Zahlen diese Wurzel gar nicht ziehen. Saint-Martin will also sagen, daß die Welt geschaffen ist, um dem Bösen seine Natur zu nehmen, um es dem Guten gleichzusetzen, und da dies sich nicht mit rein natürlichen und verstandesmäßigen Mitteln erreichen läßt, so sind nach seiner Ansicht die Wege, auf denen sich das Wunder vollzieht, durch die Schöpfung prästabiliert.
Damit Ihnen dies alles ganz klar wird, rate ich Ihnen nur zu einer kleinen Lehrstunde über Wurzelziehen und Potenzieren bei August.
Herr Biot sollte, um ein verständiger Mensch zu werden, bei Pythagoras in die Schule gehen und fünf Jahre lang schweigen. Die ägyptischen Priester hätten ihn noch ganz anders abgeführt als S[ain]t-Martin.
Die heutigen Wissenschaftler haben den Sinn für die Wissenschaft verloren; sie tappen im Dunkeln, so wie Seidenwürmer ihre Kokons spinnen: wer sehen kann, mag hinterher ihr schönes Oval bewundern, aber sie selbst wissen nichts davon.
Es ist noch früh am Morgen; ich habe noch niemanden besuchen können, aber soeben wird mir eine sehr liebenswürdige Einladung Herrn von Poliers zugeschickt.
Ich war sehr unglücklich, Sie gestern so elend zu sehen – vor allem sorgen Sie für Ihre Gesundheit! Ihre Niedergeschlagenheit rührt z. T. von Ihrem körperlichen Zustand und zum anderen von der Luft her, in der Sie leben. Wenn Sie diese beiden Hemmungen beseitigen, werden Sie wieder in den Besitz Ihrer herrlichen Fähigkeiten kommen. Tausendmal Lebewohl, liebe Freundin.
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Ich hätte Ihnen gern vor meiner Abreise aus C[oppet] geschrieben, teure Freundin, aber ich war bis zum letzten Augenblick mit Arbeiten überhäuft. Um mich gegen Ihre Vorwürfe zu rechtfertigen, muß ich Ihnen sagen, daß Sie in der Tat jedesmal traurig sind, wenn jemand abreist, daß Sie sich aber nicht freuen, wenn man ankommt, und das ist viel schlimmer. Ferner äußern sich meine Aufregungen niemals zur rechten Zeit, sondern immer gerade dann, wenn sie mir nichts nützen und andere vor den Kopf stoßen.
Ich habe gestern mit Herrn von der Lahr zu Abend gegessen. Ich fand seine Art viel besser, als ich gedacht hatte; besonders war die Betonung, mit der er, wie man Ihnen sagte, seine Dummheiten zum besten gäbe, eine oratorische Ausschmückung ›des Berichtes‹. Er schielt beinahe, sucht aber trotzdem schlau auszusehen. Er hat seine Angelegenheit überhaupt nicht erwähnt, obwohl er mich nicht kannte. Im Gegenteil er sprach von epischer und lyrischer Poesie und behauptete einem Franzosen gegenüber, daß die wahre Poesie nicht in der Kunst des Versemachens, sondern in der Erfindungsgabe läge und daß man folglich Kotzebue einen Dichter nennen müsse. Sein Pariser Rechtsanwalt ist vor etwa vierzehn Tagen abgereist, er selber fährt heute fort, um nach Darmstadt zurückzukehren – der Erbvergleich in dem Prozeß ist also hinfällig geworden.
Nichts ist einfacher zu verstehen als das Wort Saint-Martins – er hat sich ein wenig über Biot lustig gemacht, den er gleich von Anfang an bekämpfte: er sprach lediglich zu einem Mathematiker in Begriffen seiner Wissenschaft. Die irrationalen Zahlen sind Sinnbilder des Bösen, weil ihre Grundlage sich in sich selbst widerspricht und für den Verstand unbegreiflich bleibt. Im übrigen widersetzt sich diese widerspenstige Art von Zahlen jedem Fortschreiten zu einer Zahl höherer Ordnung; denn um eine solche Zahl zu potenzieren, muß man sie zuerst in ihren Ursprungszustand, die Wurzel, zurückentwickeln und dann nochmals mit der Wurzel multiplizieren. Nun kann man aber bei den irrationalen Zahlen diese Wurzel gar nicht ziehen. Saint-Martin will also sagen, daß die Welt geschaffen ist, um dem Bösen seine Natur zu nehmen, um es dem Guten gleichzusetzen, und da dies sich nicht mit rein natürlichen und verstandesmäßigen Mitteln erreichen läßt, so sind nach seiner Ansicht die Wege, auf denen sich das Wunder vollzieht, durch die Schöpfung prästabiliert.
Damit Ihnen dies alles ganz klar wird, rate ich Ihnen nur zu einer kleinen Lehrstunde über Wurzelziehen und Potenzieren bei August.
Herr Biot sollte, um ein verständiger Mensch zu werden, bei Pythagoras in die Schule gehen und fünf Jahre lang schweigen. Die ägyptischen Priester hätten ihn noch ganz anders abgeführt als S[ain]t-Martin.
Die heutigen Wissenschaftler haben den Sinn für die Wissenschaft verloren; sie tappen im Dunkeln, so wie Seidenwürmer ihre Kokons spinnen: wer sehen kann, mag hinterher ihr schönes Oval bewundern, aber sie selbst wissen nichts davon.
Es ist noch früh am Morgen; ich habe noch niemanden besuchen können, aber soeben wird mir eine sehr liebenswürdige Einladung Herrn von Poliers zugeschickt.
Ich war sehr unglücklich, Sie gestern so elend zu sehen – vor allem sorgen Sie für Ihre Gesundheit! Ihre Niedergeschlagenheit rührt z. T. von Ihrem körperlichen Zustand und zum anderen von der Luft her, in der Sie leben. Wenn Sie diese beiden Hemmungen beseitigen, werden Sie wieder in den Besitz Ihrer herrlichen Fähigkeiten kommen. Tausendmal Lebewohl, liebe Freundin.
· Original , 25.12.1811
· Pange, Pauline de: Auguste-Guillaume Schlegel et Madame de Staël d’apres des documents inédits. Paris 1938, S. 334‒335.
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