• Ludwig Tieck to August Wilhelm von Schlegel

  • Place of Dispatch: Ziebingen · Place of Destination: Berlin · Date: [30. Mai 1803]
Edition Status: Single collated printed full text with registry labelling
    Metadata Concerning Header
  • Sender: Ludwig Tieck
  • Recipient: August Wilhelm von Schlegel
  • Place of Dispatch: Ziebingen
  • Place of Destination: Berlin
  • Date: [30. Mai 1803]
  • Notations: Datum sowie Absende- und Empfangsort erschlossen.
    Printed Text
  • Bibliography: Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel. Briefe. Hg. v. Edgar Lohner auf der Grundlage der von Henry Lüdeke besorgten Edition. München 1972, S. 131‒134.
  • Incipit: „[1] Ziebingen, am Pfingsten-Mondtage, [30. Mai 1803]
    Liebster Freund, recht sehr danke ich dir für deinen lieben Brief, der mich sehr erfreut [...]“
    Manuscript
  • Provider: Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
  • OAI Id: DE-611-36934
  • Classification Number: Mscr.Dresd.e.90,XIX,Bd.28,Nr.79
  • Number of Pages: 8 S. auf Doppelbl., hs. m. U.
  • Format: 18,8 x 11,4 cm
    Language
  • German
[1] Ziebingen, am Pfingsten-Mondtage, [30. Mai 1803]
Liebster Freund, recht sehr danke ich dir für deinen lieben Brief, der mich sehr erfreut hat, nachdem mir der vorige von meiner Schwester die gröste Angst gemacht hatte. Unendlich glüklich macht es mich, daß Sie sich auf dem Wege der Besserung befindet, wie ich nun wirklich glauben muß, auch glaube ich, daß es nicht so wie bisher nur zum Schein auf wenige Tage sein wird, sondern eine wirkliche Kur, die auf ihre Gesundheit und ihr ganzes Leben einen Einfluß hat. Wie gerne hätte ich sie noch einmal gesehn, und es war auch schon ausgemacht, als so viele Schwierigkeiten dazwischen kamen, daß ich wohl die Reise aufgeben muste. Wir sind nun höchstwahrscheinlich schon künftigen Sonntag, also den 5t Junius in Dresden, vielleicht um einen Tag später, allein es ist nicht wahrscheinlich, und ich wünsche nur, daß die Schwester sobald als möglich, ohne ihrer Gesundheit Schaden zu thun, die [2] Reise einrichten kann: wirst Du sie nicht begleiten? Oder bleibt Knorring bei seinem Vorsatze, nach Dresden zu gehn? Diesen bitte ich recht herzlich von mir zu grüßen; auch Malchen grüßt sehr, sie und Dorothea befinden sich wohl.
Es kann sein, daß wir noch künftigen Sonntag hier sind, aber dies möchte wohl der lezte Tag sein, indeß kann ich immer noch einmal Nachricht von Dir erhalten, hier, von Dresden schreibe ich dann sogleich wieder: jezt kommt es mir darauf an, wozu du mir vielleicht behülflich sein kannst, etwas Geld von Reimer noch hieher zu erhalten, weswegen ich ihm auch schon selbst mit der vorigen Post geschrieben habe. Du kannst wohl mit ihm darüber sprechen, oder wie Du willst; ich denke, daß er mir auch von selbst antworten wird, nur ist es eilig, das ist die Hauptsache.
[3] Da ich selber heut in Eil bin, kann ich dir nicht umständlicher über die vorgeschlagenen Verbesserungen sprechen, ich danke Dir für Deine Mühe, Die du Dir gegeben, indessen mußt Du auch nach unsrer Uebereinkunft und freundschaftlichen Vertraulichkeit nicht böse werden, wenn ich sie nicht annehme und Dich nur bitte, ganz genau, und ohne Abweichung bei dem von mir gemachten Texte zu bleiben, da wir hierüber auf einem verschiedenen Standpunkte stehn. Nach dem unbestimmten, den du angenommen hast, müste eigentlich jeder Vers verändert werden, und da du einmal annimmst, ich habe die Sache nicht genau genug genommen, ich verstehe die Sprache nicht genug, muß Dir alles Geänderte willkührlich erscheinen, und darum liegt es eben nahe, alles zu ändern: ich bin aber für mich überzeugt, daß ich die Sache nicht [4] leichtsinnig, sondern weit eher zu schwerfällig getrieben habe, so daß ich viele Gedichte 6 bis 7 mal abgeändert und abgeschrieben habe, ich zweifle auch, daß einer jezt so viele altteutsche Dichter mit der Aufmerksamkeit wird gelesen haben, da ich seit länger als 2 Jahren nichts andres getrieben habe. Diesen Codex des Maneße aber habe ich vollends so durchstudirt, daß Du künftig bei der Vergleichung erst mehr einsehn wirst, wie sehr: Fehler sind gewiß darinn, diese sind kaum zu vermeiden, indessen halte dich nur überzeugt, daß die meisten Abweichungen vorsätzliche sind. Darum wiederhole ich nur meine Bitte, und damit sie Dir nicht ganz ungereimt vorkommen mag, will ich Dir nur zeigen, wie Du leicht mit aller guten Absicht viele Fehler hinein korrigiren könntest: du stösset dich im Gedicht des Herzogs Heinrich von Breslau [5] an den Ausdruck: „Nun sei von uns ihr widersagt der Guten“ (widerseit) und willst widersprechen haben, und ich muß Dich hier nur erinnern, daß widersagen ein ganz gewöhnlicher Ausdruck ist für Krieg ankündigen, der noch zu Maximilians und spätern Zeiten in allen Fehdebriefen gebraucht wird, selbst neuere Roman-Schriftsteller haben diesen Ausdruck angenommen, und er gehört zu den bekanntesten; du zweifelst, daß dingen Gedinge mit dienen richtig übersezt sei, und doch kommt es so bei Beschreibung jedes Festes in den Niebelungen vor: die das Gedinge hatten, die trugen Schwerdt in Hand etc.; unendlich oft; ja der Ausdruck ein Ausgedinger für einen Alten, der nicht mehr dienen kann, hat sich im Preussischen, und [6] Nieder-Sächsischen noch allgemein auf dem Lande erhalten. Im Herzog Johann von Brabant habe ich: da sie bestet ist inne, durch: wo sie bestehet inne, übersezt, etwas abweichend, es heißt: wo sie bestellt ist inne, nicht wie Du willst: wo sie beständig ist inne, u.s.w. – Weil ihn dazu ein Getränk zwang, ist hart, aber nach meinem Ohr nicht so als wenn ich Trank hineinbrächte, und mit zwang so reime, so hatte ich es in einer früheren Abschrift. Auf das schöne Lied des H[einrich] von Veldek, das sich anders beim Ulrich von Lichtenstein findet, kann man bei diesem keine Rücksicht nehmen, weil er es schon verbessert hat, wie auch die neuere Sprache beweist, er hat das Schöne nicht mehr verstanden, und darum auch die Strofen anders gestellt, und die lezte von ihm [7] hinzufügte ist ja ganz elend; so daß mich erst diese Anmaßung von ihm so aufbrachte, daß ich anfangs seinen herrlichen Gedichten gar keine Gerechtigkeit widerfahren ließ. – Alle Lokalbeziehungen, wie Apulica (Pulle heißt aber noch öfter Bologna), habe ich vorsätzlich ausgelassen und deswegen ganze Gedichte, die sehr schön sind: der lezte Vers kann bei Friedrich von Leiningen auch von einer Reise der Geliebten verstanden werden, eben wie man will. – Willkührliche Aenderungen wirst Du noch mehr und dreister in den künstlichen Gedichten finden, diese besonders must Du ganz nach meiner Abtheilung lassen: das Ganze ist überhaupt nicht für Gelehrte, sondern für ächte Liebhaber angestellt, die es zu genießen wissen, das Ge[8]lehrte kann in Zukunft noch immer geschehn, wenn dieses Effekt macht; es ist bisher von dieser Art genug versucht und hat nichts gefruchtet.
Darum sei nicht böse über diese kleine Verschiedenheit in unsrer Absicht, und über meine dringende Bitte, gar nichts in meinem Manuskript zu verändern, als wo du einen offenbaren Schreibfehler siehst, wie ich kaum glaube, daß sich darinn befindet: für sehnden setze immer sehnenden, (Sehnen heißt aber eigentlich Leid, Trauer) und für ohne Huthe wo es noch steht unbehüthet oder ungehüthet.
Grüsse meine Schwester und den Freund.
Der Deinige
L. T.
[1] Ziebingen, am Pfingsten-Mondtage, [30. Mai 1803]
Liebster Freund, recht sehr danke ich dir für deinen lieben Brief, der mich sehr erfreut hat, nachdem mir der vorige von meiner Schwester die gröste Angst gemacht hatte. Unendlich glüklich macht es mich, daß Sie sich auf dem Wege der Besserung befindet, wie ich nun wirklich glauben muß, auch glaube ich, daß es nicht so wie bisher nur zum Schein auf wenige Tage sein wird, sondern eine wirkliche Kur, die auf ihre Gesundheit und ihr ganzes Leben einen Einfluß hat. Wie gerne hätte ich sie noch einmal gesehn, und es war auch schon ausgemacht, als so viele Schwierigkeiten dazwischen kamen, daß ich wohl die Reise aufgeben muste. Wir sind nun höchstwahrscheinlich schon künftigen Sonntag, also den 5t Junius in Dresden, vielleicht um einen Tag später, allein es ist nicht wahrscheinlich, und ich wünsche nur, daß die Schwester sobald als möglich, ohne ihrer Gesundheit Schaden zu thun, die [2] Reise einrichten kann: wirst Du sie nicht begleiten? Oder bleibt Knorring bei seinem Vorsatze, nach Dresden zu gehn? Diesen bitte ich recht herzlich von mir zu grüßen; auch Malchen grüßt sehr, sie und Dorothea befinden sich wohl.
Es kann sein, daß wir noch künftigen Sonntag hier sind, aber dies möchte wohl der lezte Tag sein, indeß kann ich immer noch einmal Nachricht von Dir erhalten, hier, von Dresden schreibe ich dann sogleich wieder: jezt kommt es mir darauf an, wozu du mir vielleicht behülflich sein kannst, etwas Geld von Reimer noch hieher zu erhalten, weswegen ich ihm auch schon selbst mit der vorigen Post geschrieben habe. Du kannst wohl mit ihm darüber sprechen, oder wie Du willst; ich denke, daß er mir auch von selbst antworten wird, nur ist es eilig, das ist die Hauptsache.
[3] Da ich selber heut in Eil bin, kann ich dir nicht umständlicher über die vorgeschlagenen Verbesserungen sprechen, ich danke Dir für Deine Mühe, Die du Dir gegeben, indessen mußt Du auch nach unsrer Uebereinkunft und freundschaftlichen Vertraulichkeit nicht böse werden, wenn ich sie nicht annehme und Dich nur bitte, ganz genau, und ohne Abweichung bei dem von mir gemachten Texte zu bleiben, da wir hierüber auf einem verschiedenen Standpunkte stehn. Nach dem unbestimmten, den du angenommen hast, müste eigentlich jeder Vers verändert werden, und da du einmal annimmst, ich habe die Sache nicht genau genug genommen, ich verstehe die Sprache nicht genug, muß Dir alles Geänderte willkührlich erscheinen, und darum liegt es eben nahe, alles zu ändern: ich bin aber für mich überzeugt, daß ich die Sache nicht [4] leichtsinnig, sondern weit eher zu schwerfällig getrieben habe, so daß ich viele Gedichte 6 bis 7 mal abgeändert und abgeschrieben habe, ich zweifle auch, daß einer jezt so viele altteutsche Dichter mit der Aufmerksamkeit wird gelesen haben, da ich seit länger als 2 Jahren nichts andres getrieben habe. Diesen Codex des Maneße aber habe ich vollends so durchstudirt, daß Du künftig bei der Vergleichung erst mehr einsehn wirst, wie sehr: Fehler sind gewiß darinn, diese sind kaum zu vermeiden, indessen halte dich nur überzeugt, daß die meisten Abweichungen vorsätzliche sind. Darum wiederhole ich nur meine Bitte, und damit sie Dir nicht ganz ungereimt vorkommen mag, will ich Dir nur zeigen, wie Du leicht mit aller guten Absicht viele Fehler hinein korrigiren könntest: du stösset dich im Gedicht des Herzogs Heinrich von Breslau [5] an den Ausdruck: „Nun sei von uns ihr widersagt der Guten“ (widerseit) und willst widersprechen haben, und ich muß Dich hier nur erinnern, daß widersagen ein ganz gewöhnlicher Ausdruck ist für Krieg ankündigen, der noch zu Maximilians und spätern Zeiten in allen Fehdebriefen gebraucht wird, selbst neuere Roman-Schriftsteller haben diesen Ausdruck angenommen, und er gehört zu den bekanntesten; du zweifelst, daß dingen Gedinge mit dienen richtig übersezt sei, und doch kommt es so bei Beschreibung jedes Festes in den Niebelungen vor: die das Gedinge hatten, die trugen Schwerdt in Hand etc.; unendlich oft; ja der Ausdruck ein Ausgedinger für einen Alten, der nicht mehr dienen kann, hat sich im Preussischen, und [6] Nieder-Sächsischen noch allgemein auf dem Lande erhalten. Im Herzog Johann von Brabant habe ich: da sie bestet ist inne, durch: wo sie bestehet inne, übersezt, etwas abweichend, es heißt: wo sie bestellt ist inne, nicht wie Du willst: wo sie beständig ist inne, u.s.w. – Weil ihn dazu ein Getränk zwang, ist hart, aber nach meinem Ohr nicht so als wenn ich Trank hineinbrächte, und mit zwang so reime, so hatte ich es in einer früheren Abschrift. Auf das schöne Lied des H[einrich] von Veldek, das sich anders beim Ulrich von Lichtenstein findet, kann man bei diesem keine Rücksicht nehmen, weil er es schon verbessert hat, wie auch die neuere Sprache beweist, er hat das Schöne nicht mehr verstanden, und darum auch die Strofen anders gestellt, und die lezte von ihm [7] hinzufügte ist ja ganz elend; so daß mich erst diese Anmaßung von ihm so aufbrachte, daß ich anfangs seinen herrlichen Gedichten gar keine Gerechtigkeit widerfahren ließ. – Alle Lokalbeziehungen, wie Apulica (Pulle heißt aber noch öfter Bologna), habe ich vorsätzlich ausgelassen und deswegen ganze Gedichte, die sehr schön sind: der lezte Vers kann bei Friedrich von Leiningen auch von einer Reise der Geliebten verstanden werden, eben wie man will. – Willkührliche Aenderungen wirst Du noch mehr und dreister in den künstlichen Gedichten finden, diese besonders must Du ganz nach meiner Abtheilung lassen: das Ganze ist überhaupt nicht für Gelehrte, sondern für ächte Liebhaber angestellt, die es zu genießen wissen, das Ge[8]lehrte kann in Zukunft noch immer geschehn, wenn dieses Effekt macht; es ist bisher von dieser Art genug versucht und hat nichts gefruchtet.
Darum sei nicht böse über diese kleine Verschiedenheit in unsrer Absicht, und über meine dringende Bitte, gar nichts in meinem Manuskript zu verändern, als wo du einen offenbaren Schreibfehler siehst, wie ich kaum glaube, daß sich darinn befindet: für sehnden setze immer sehnenden, (Sehnen heißt aber eigentlich Leid, Trauer) und für ohne Huthe wo es noch steht unbehüthet oder ungehüthet.
Grüsse meine Schwester und den Freund.
Der Deinige
L. T.
×
×