• Friedrich von Schlegel to August Wilhelm von Schlegel

  • Place of Dispatch: Leipzig · Place of Destination: Amsterdam · Date: 08.11.1791
Edition Status: Single collated printed full text with registry labelling
    Metadata Concerning Header
  • Sender: Friedrich von Schlegel
  • Recipient: August Wilhelm von Schlegel
  • Place of Dispatch: Leipzig
  • Place of Destination: Amsterdam
  • Date: 08.11.1791
  • Notations: Empfangsort erschlossen.
    Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 28‒32.
  • Incipit: „[1] den 8ten November 91.
    Ich wollte Dir schon seit einigen Wochen alle Posttage schreiben; weil ich Dir manches zu schreiben hatte, [...]“
    Manuscript
  • Provider: Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
  • OAI Id: DE-1a-34186
  • Classification Number: Mscr.Dresd.e.90,XIX,Bd.24.a,Nr.5
  • Number of Pages: 9S. auf Doppelbl., hs. m. U.
  • Format: 19,1 x 11,5 cm
    Language
  • German
[1] den 8ten November 91.
Ich wollte Dir schon seit einigen Wochen alle Posttage schreiben; weil ich Dir manches zu schreiben hatte, und um den bisherigen regelmäßigen Gang unsrer Briefe zu unterbrechen; als ich bey meiner Zurückkunft von Zerbst durch Deinen Brief überrascht ward. – Das, was Du einigemal darin so rätselhaft berührst, hat mich in die größte Unruhe gesetzt. Ich wünschte Du hättest Dich mir deutlicher mitgetheilt: ich kann nicht einsehen, was der Grund davon ist. – Sey die Sache was es immer sey, so mußt Du wissen, daß Du auf mich rechnen darfst und daß ich auch das, was die Welt Sünde nennt, für Dich übernehmen kann, sey es durch die That oder durch Schweigen. – Wenn künftig Dinge mit Dir im Werke sind, die gar nicht mittheilbar sind, so spiele auch nicht darauf an. – Da dieß ietzt nicht der Fall ist, so hoffe ich baldige Aufklärung.
Was es auch seyn mag, was Du unternimmst lieber Bruder – handle groß, und wenn es nicht gelingt, so bleibe fest stehen. Du wirst alsdenn eine glorreiche Gelegenheit haben, Gott zu verachten. Bey allem Reichthum, wenn wir nicht unsrer <eignen> Vollkommenheit selbst entsagen können, sind wir nur Diener Gottes. – Wenn Du unglücklich bist, so fürchte ich für Deine Seele. – Doch wenn Du nur willst! –
Meinen Wunsch betreffend die B. [Caroline Böhmer] hast Du errathen. Ich finde vieles von dem was Du sagst wahr, und will alles Dir überlassen. [2] Da Du nun weißst, daß jedes auch das entfernteste Verhältniß mit ihr, mir von großem Werth seyn würde, so darf ich überezeugt seyn, daß es seyn wird sobald es thunlich ist. – Hätte ich doch wahrlich nicht gedacht, daß ich mich so bald nach Göttingen zurückwünschen könnte: und doch darf ich mich aus so vielen Ursachen nicht zurückwünschen. Wenn B. [Caroline Böhmer] von ohngefähr in Gött[ingen] etwas von mir zu hören bekommt, so muß sie eine falsche Idee bekommen; ich habe auch wirklich eine etwas seltsame Rolle in Gött[ingen] gespielt. – In diesen Ferien trat einmal ganz unverhofft Fiorillo zu mir ins Zimmer. Er hat mit lʼArcheveque und mit Salis, oder wie ich argwöhne, mit Salis Geldbeutel eine Reise nach Dreßden gemacht, wo er am Anblick der Gallerie und in Casanovaʼs Umgang viel Freude genossen. Ich führte ihn zum alten Oeser; sie waren aber zu kurze Zeit bey einander um in ein recht intereßantes Gespräch zu kommen. – Bey der Gelegenheit habe ich manches neue von Göttingen gehört (auch durch einen gewissen Dir bekannten von Melkeburg, mit dem mich Woltmann behelligt hat.) Bouterwecken hat die Berlepsch den Titel eines Raths bey dem Herzog von Weimar ausgewirkt. Darauf rühmt er in Gesellschaften den Herzog sehr, daß er dem Verdienst aus der Ferne winke, und Genies aus eignem Antriebe zu Räthen mache. Da die Berlepsch dieß hört, sagt sie in Gesellschaft, [3] daß er es durch sie erhalten. Bout[erwek] geht entrüstet zu ihr, und ich weiß nicht ob er ihr den Rath zurückgegeben, oder sie ihn zurückgenommen hat. Jetzt ist er Herr Bout[erwek] vor wie nach. Die Berlepsch soll sich über den Donamar sehr unwissend stellen. Sie hat Spittler gefragt wie ihm die Laurette gefiele: dieser hat geantwortet; er wüßte nicht ob sie das Original oder die Copie meynte. Bout[erwek] macht Mlles. Michaelis, die seit ihres Vaters Tode viel Gesellschaft sehen, sehr die Cour, und ist stark mit der Kneiseln liirt, die sich itzt in Göttingen niedergelassen hat. Mad. Bürger hat sich zurückgezogen. Salis, Launay und lʼArcheveque essen da. Salis ist noch derselbe: lʼArcheveque hat mir die besten Empfehlungen an Dich aufgetragen. Ich führte ihn in die hiesigen Gärten herum und ging nachher mit ihm in das Schauspiel; er wünschte sehr zu sehen die Deutschen dans le tragique; denn dans le comique hätte er sie schon gesehen (ihn sieht man immer dans le comique). Er hatte eine große Brille auf der Nase und sah die Deutschen unverwandt an. – Von Woltmann weiß ich nichts Specielles; einige <lange> Wehmuthslieder finden sich in dem heurigen Musenallmanach. Fiorillo war nur anderthalb Tage hier und ich mußte ihn noch mit einigen andern Menschen theilen. Ich soll ihn bey Dir recht sehr entschuldigen daß er nicht schreibt; sein Intereße hat desfalls [4] nicht abgenommen. – Ich habe in diesen Ferien das Theater sehr oft besucht. Es spielt nehmlich in den Messen hier die Dreßdner Gesellschaft. Im ganzen bleiben sie innerhalb des Kreises der gewöhnlichen Künste die zu einem schlechten Schauspieler gehören als da sind, die Hände zu ringen, sich auf die Brust oder nach Befinden der Umstände auf die Lenden zu schlagen, sich mit dem Schnupftuch die Nase zu wischen, hin und her zu gehen, mit der Hand auf der Stirne in die Höhe zu blicken u.s.w. – Die Albrecht ist aus Liebhaberey aufs Theater gegangen (sie hat auch Gedichte in der Thalia und sonst drucken lassen) dringt manchmal in die Character, ist sich aber sehr ungleich und launisch, utrirt sehr in empfindsamen Rollen, und hat eine schlechte Figur. Opitz dringt <fast> nie in die Character recht ein; macht aber wüthende Leidenschaft nicht schlecht; ist nicht ohne Uebung; doch fehlt es an Studium so wie der vorigen. Als Hamlet schrie er sehr. Das ganze Stück ward überall abscheulich gegeben. Doch bewegte es auch so einige Tage mein ganzes Herz. Ich setze hier einige Zeilen her, die ich Papen darüber schrieb. „Scheinbar unzusammenhängend, finde ich doch tiefen innigen Zusammenhang des Gefühls in Hamlet. Zuerst wird die Seele des Hörers ganz rege [5] gemacht durch das schaurige einer Geistererscheinung und die Schrecknisse der Hölle. – Hamlets Art über die Dinge zu denken scheint mir das Hauptziel des ganzen zu seyn; diese wird immer mehr entwikkelt durch mancherley Begebenheiten und hebende Contraste hindurch, bis die Wirkung, die diese Denkungsart, je deutlicher sie sich entfaltet, in dem Hörer hervorbringt, in der Scene wo die verwirrte Ophelia singt, in Verzweiflung des Gefühls und endlich in der Todtengräber-Scene in die höchste Verzweiflung des Verstandes übergeht, und nun ihren Gipfel erreicht hat. Die letzten Scenen in ihrem raschen Fortgange mit dem ritterlichen Zweykampf, dem allgemeinen Sterben, dem kriegerischen Aufzug über die Wahlstatt und dem feyerlichen Begräbniß, haben etwas starkes welches gleichsam den ganzen Verzweiflungsschwangern Eindruck tief und dauernd in das Herz schlägt. –
Werden Sie mich der Spitzfindigkeit beschuldigen, wenn ich auch die Albernheiten des Polonius bedeutend finde?“ etc. – Freilich ist dieß nur zu sehr Skizze; ich habe nur angedeutet daß ich die Denkungsart des Hamlet für den eigentlichen Mittelpunkt halte*; sie zu entwickeln und dem Gange des ganzen Stückes zu folgen <das> würde mich zu einer Abhandlung führen. –
[6] Nach einem Zwischenraum von einigen Tagen, den mancherley Geschäfte und Plane und ein heftiger Anfall von Mismuth verursacht haben, setze ich mich wieder nieder, um meine unterbrochene Unterhaltung zu vollenden. – Ich überdenke so eben was alles in meinem Kopfe vorging in dieser so kurzen Zeit, die zahllosen Gedanken, die mein Geist baute, allen Schmerz alle Freude, alles das was ich Dir nicht nennen kann. Die Menschheit ist etwas wunderbar Schönes etwas unendlich Reiches – und doch zerfrißt das Gefühl unsrer Armuth jeden Moment meines Lebens. Und dann giebt es Zeiten wo das Beste was ich mir zu denken vermag, meine Tugend, wenn sie auch auf den Augenblick erreichbar würde, mich anekelt. – So lebe ich denn immer fort – glaube aber nicht daß ich jeder Laune so diene wie in Gött[ingen], ganz so kränkliches Herzens bin. Du würdest den Weg billigen, den ich gehe; es ist ziemlich der, den Du mir zeigst – heilsame Thätigkeit. Zwar sind die Wege zum Glück ganz dunkel und – so geringfügig das scheint, ob eine Creatur wie ich glücklich ist – so ist doch kein endlicher Verstand fähig einzusehen ob mich dieß zum Glück oder zum Verderben führt. Doch <denke ich> würde vor der Hand ein Werk des Geistes recht gute Dienste thun; ob ich gleich wenn ich beten könnte, Gott nicht um Verstand sondern um Liebe bitten würde.
Erwarte nicht zu viel von meinem Zu[7]stande und überhaupt; über den gemeinen Pöbel der Sünder setze ich mich hoch weg; aber ich fühle es oft, recht viel bin ich nicht werth. Es gilt hier erst was Du von der Geringfügigkeit aller menschlichen Vortrefflichkeit sehr richtig bemerkst. – Ich wüßte mich auch nicht zu entsinnen daß ich etwas sehr gutes gethan hätte; wohl einiges schlechte und übrigens habe ich gedacht, und bin oft Seelenkrank gewesen. Ich darf mich <noch> kaum einen Mann nennen; was meinem Verstand betrifft so habe ich doch nicht selten die lächerlichsten Irrthümer begangen; ich betrüge mich sehr leicht selbst. Was ich aber eigentlich am meisten an mir zu tadeln habe, dafür finde ich keine Worte, es auszudrücken; es gehört mit dahin daß die seltsamsten Absprünge von der höchsten Höhe zur tiefsten Tiefe meinem Gefühl so gewöhnlich sind.
Dieses sind meine Gedanken über mich; misfallen sie Dir so denke an das herrliche Wort; zwischen uns sey Wahrheit.
Wenn ich ein Gespräch dichten werde, so wird mein höchster Wunsch seyn, alles aus der immensen Eigenthümlichkeit unsrer Nation zu nehmen. – An die Erdichtung eines ächt griechischen Gesprächs wage ich mich nicht. – Es scheint mir zuerst am besten das Große was man um sich sieht und [8] von dem man Theile in sich hat, in der Vortrefflichkeit darzustellen. Und dann sind die meisten unsrer Gedanken nicht neu, aber in ihren feinsten Zweigen und Blättern anders gewachsen und gebildet; und diese Theile sehe ich nicht für unbedeutend an. – Es giebt eine Größe und eine Schönheit für jedes Clima, auch für den Nordpol, und für jedes noch so entartete Geschlecht der Menschen. Unser Geist ist wunderbar biegsam und bildsam, so wie unser Leib.
Auf den deutschen Character ist man noch nicht sehr aufmerksam. Seit einiger Zeit, däucht mich entdeckt zu haben, daß unser Volk einen sehr großen Character hat. So nenne ich den Inbegriff climatischer und geschlechtsmäßiger Vortrefflichkeiten; vollendet sehe ich ihn nur in einigen wenigen großen Männern, verzerrte Züge finde ich <fast> in allen Deutschen Char[akteren]. – Unter den Männern, die der öffentliche Ruf kennt, nenne ich Dir hier Friedrich, Göthe, Klopstock, Winkelmann und Kant. Ich könnte noch viele andre von etwas geringem Gehalt nennen, deren Größe ich auch ursprünglich deutsch finde. Von obiger Art Menschen ist wohl unter allen Geschlechtern der Menschen nicht viel Gleiches zu finden, und sie haben <mehrere> Eigenschaften, wovon nie ein uns bekanntes Volk ein Ahndung gehabt hat.* – [9] Ein andermal mehr davon. – Du wunderst Dich vielleicht daß ich Klopstock oben nannte. Ich habe Frieden mit ihm geschlossen. – Es athmet aus seinen Schöpfungen und seinem Leben eine edle Männlichkeit, Kühnheit, Bestimmtheit, unerschütterliche Beharrlichkeit; er ist ein Mann und ein Mann ist ein so seltnes Wesen, daß ich jeden der es ist in dem Herzen meines Herzens trage, und alles an ihm dulde. Ueber seine Gedichte rede ich wohl einmal umständlicher.
F. S.

Dieser zu verschiedenen Zeiten geschriebene Brief ist den 8ten November 91 abgeschickt.
Ich wiederhohle meine Bitte um baldige Aufklärung.

[5] * daher fällt die gewöhnliche Klage über Mangel an Handlung ganz weg; es ist ein Gedanken-[6]Schauspiel wie Faust.

[9] * Ich sehe in allen besonders den wissenschaftlichen Thaten der Deutschen <nur> den Keim einer großen herannahenden Zeit und glaube daß unter unserm Volke Dinge geschehen werden, wie nie unter einem menschl.[ichen] Geschlecht. Rastlose Thätigkeit, tiefes Eindringen in das innere der Dinge, sehr viel Anlage zur Sittlichkeit und Freiheit finde ich in unserm Volke. Allenthalben aber sehe ich die Spuren des Werdens.
[10]
[1] den 8ten November 91.
Ich wollte Dir schon seit einigen Wochen alle Posttage schreiben; weil ich Dir manches zu schreiben hatte, und um den bisherigen regelmäßigen Gang unsrer Briefe zu unterbrechen; als ich bey meiner Zurückkunft von Zerbst durch Deinen Brief überrascht ward. – Das, was Du einigemal darin so rätselhaft berührst, hat mich in die größte Unruhe gesetzt. Ich wünschte Du hättest Dich mir deutlicher mitgetheilt: ich kann nicht einsehen, was der Grund davon ist. – Sey die Sache was es immer sey, so mußt Du wissen, daß Du auf mich rechnen darfst und daß ich auch das, was die Welt Sünde nennt, für Dich übernehmen kann, sey es durch die That oder durch Schweigen. – Wenn künftig Dinge mit Dir im Werke sind, die gar nicht mittheilbar sind, so spiele auch nicht darauf an. – Da dieß ietzt nicht der Fall ist, so hoffe ich baldige Aufklärung.
Was es auch seyn mag, was Du unternimmst lieber Bruder – handle groß, und wenn es nicht gelingt, so bleibe fest stehen. Du wirst alsdenn eine glorreiche Gelegenheit haben, Gott zu verachten. Bey allem Reichthum, wenn wir nicht unsrer <eignen> Vollkommenheit selbst entsagen können, sind wir nur Diener Gottes. – Wenn Du unglücklich bist, so fürchte ich für Deine Seele. – Doch wenn Du nur willst! –
Meinen Wunsch betreffend die B. [Caroline Böhmer] hast Du errathen. Ich finde vieles von dem was Du sagst wahr, und will alles Dir überlassen. [2] Da Du nun weißst, daß jedes auch das entfernteste Verhältniß mit ihr, mir von großem Werth seyn würde, so darf ich überezeugt seyn, daß es seyn wird sobald es thunlich ist. – Hätte ich doch wahrlich nicht gedacht, daß ich mich so bald nach Göttingen zurückwünschen könnte: und doch darf ich mich aus so vielen Ursachen nicht zurückwünschen. Wenn B. [Caroline Böhmer] von ohngefähr in Gött[ingen] etwas von mir zu hören bekommt, so muß sie eine falsche Idee bekommen; ich habe auch wirklich eine etwas seltsame Rolle in Gött[ingen] gespielt. – In diesen Ferien trat einmal ganz unverhofft Fiorillo zu mir ins Zimmer. Er hat mit lʼArcheveque und mit Salis, oder wie ich argwöhne, mit Salis Geldbeutel eine Reise nach Dreßden gemacht, wo er am Anblick der Gallerie und in Casanovaʼs Umgang viel Freude genossen. Ich führte ihn zum alten Oeser; sie waren aber zu kurze Zeit bey einander um in ein recht intereßantes Gespräch zu kommen. – Bey der Gelegenheit habe ich manches neue von Göttingen gehört (auch durch einen gewissen Dir bekannten von Melkeburg, mit dem mich Woltmann behelligt hat.) Bouterwecken hat die Berlepsch den Titel eines Raths bey dem Herzog von Weimar ausgewirkt. Darauf rühmt er in Gesellschaften den Herzog sehr, daß er dem Verdienst aus der Ferne winke, und Genies aus eignem Antriebe zu Räthen mache. Da die Berlepsch dieß hört, sagt sie in Gesellschaft, [3] daß er es durch sie erhalten. Bout[erwek] geht entrüstet zu ihr, und ich weiß nicht ob er ihr den Rath zurückgegeben, oder sie ihn zurückgenommen hat. Jetzt ist er Herr Bout[erwek] vor wie nach. Die Berlepsch soll sich über den Donamar sehr unwissend stellen. Sie hat Spittler gefragt wie ihm die Laurette gefiele: dieser hat geantwortet; er wüßte nicht ob sie das Original oder die Copie meynte. Bout[erwek] macht Mlles. Michaelis, die seit ihres Vaters Tode viel Gesellschaft sehen, sehr die Cour, und ist stark mit der Kneiseln liirt, die sich itzt in Göttingen niedergelassen hat. Mad. Bürger hat sich zurückgezogen. Salis, Launay und lʼArcheveque essen da. Salis ist noch derselbe: lʼArcheveque hat mir die besten Empfehlungen an Dich aufgetragen. Ich führte ihn in die hiesigen Gärten herum und ging nachher mit ihm in das Schauspiel; er wünschte sehr zu sehen die Deutschen dans le tragique; denn dans le comique hätte er sie schon gesehen (ihn sieht man immer dans le comique). Er hatte eine große Brille auf der Nase und sah die Deutschen unverwandt an. – Von Woltmann weiß ich nichts Specielles; einige <lange> Wehmuthslieder finden sich in dem heurigen Musenallmanach. Fiorillo war nur anderthalb Tage hier und ich mußte ihn noch mit einigen andern Menschen theilen. Ich soll ihn bey Dir recht sehr entschuldigen daß er nicht schreibt; sein Intereße hat desfalls [4] nicht abgenommen. – Ich habe in diesen Ferien das Theater sehr oft besucht. Es spielt nehmlich in den Messen hier die Dreßdner Gesellschaft. Im ganzen bleiben sie innerhalb des Kreises der gewöhnlichen Künste die zu einem schlechten Schauspieler gehören als da sind, die Hände zu ringen, sich auf die Brust oder nach Befinden der Umstände auf die Lenden zu schlagen, sich mit dem Schnupftuch die Nase zu wischen, hin und her zu gehen, mit der Hand auf der Stirne in die Höhe zu blicken u.s.w. – Die Albrecht ist aus Liebhaberey aufs Theater gegangen (sie hat auch Gedichte in der Thalia und sonst drucken lassen) dringt manchmal in die Character, ist sich aber sehr ungleich und launisch, utrirt sehr in empfindsamen Rollen, und hat eine schlechte Figur. Opitz dringt <fast> nie in die Character recht ein; macht aber wüthende Leidenschaft nicht schlecht; ist nicht ohne Uebung; doch fehlt es an Studium so wie der vorigen. Als Hamlet schrie er sehr. Das ganze Stück ward überall abscheulich gegeben. Doch bewegte es auch so einige Tage mein ganzes Herz. Ich setze hier einige Zeilen her, die ich Papen darüber schrieb. „Scheinbar unzusammenhängend, finde ich doch tiefen innigen Zusammenhang des Gefühls in Hamlet. Zuerst wird die Seele des Hörers ganz rege [5] gemacht durch das schaurige einer Geistererscheinung und die Schrecknisse der Hölle. – Hamlets Art über die Dinge zu denken scheint mir das Hauptziel des ganzen zu seyn; diese wird immer mehr entwikkelt durch mancherley Begebenheiten und hebende Contraste hindurch, bis die Wirkung, die diese Denkungsart, je deutlicher sie sich entfaltet, in dem Hörer hervorbringt, in der Scene wo die verwirrte Ophelia singt, in Verzweiflung des Gefühls und endlich in der Todtengräber-Scene in die höchste Verzweiflung des Verstandes übergeht, und nun ihren Gipfel erreicht hat. Die letzten Scenen in ihrem raschen Fortgange mit dem ritterlichen Zweykampf, dem allgemeinen Sterben, dem kriegerischen Aufzug über die Wahlstatt und dem feyerlichen Begräbniß, haben etwas starkes welches gleichsam den ganzen Verzweiflungsschwangern Eindruck tief und dauernd in das Herz schlägt. –
Werden Sie mich der Spitzfindigkeit beschuldigen, wenn ich auch die Albernheiten des Polonius bedeutend finde?“ etc. – Freilich ist dieß nur zu sehr Skizze; ich habe nur angedeutet daß ich die Denkungsart des Hamlet für den eigentlichen Mittelpunkt halte*; sie zu entwickeln und dem Gange des ganzen Stückes zu folgen <das> würde mich zu einer Abhandlung führen. –
[6] Nach einem Zwischenraum von einigen Tagen, den mancherley Geschäfte und Plane und ein heftiger Anfall von Mismuth verursacht haben, setze ich mich wieder nieder, um meine unterbrochene Unterhaltung zu vollenden. – Ich überdenke so eben was alles in meinem Kopfe vorging in dieser so kurzen Zeit, die zahllosen Gedanken, die mein Geist baute, allen Schmerz alle Freude, alles das was ich Dir nicht nennen kann. Die Menschheit ist etwas wunderbar Schönes etwas unendlich Reiches – und doch zerfrißt das Gefühl unsrer Armuth jeden Moment meines Lebens. Und dann giebt es Zeiten wo das Beste was ich mir zu denken vermag, meine Tugend, wenn sie auch auf den Augenblick erreichbar würde, mich anekelt. – So lebe ich denn immer fort – glaube aber nicht daß ich jeder Laune so diene wie in Gött[ingen], ganz so kränkliches Herzens bin. Du würdest den Weg billigen, den ich gehe; es ist ziemlich der, den Du mir zeigst – heilsame Thätigkeit. Zwar sind die Wege zum Glück ganz dunkel und – so geringfügig das scheint, ob eine Creatur wie ich glücklich ist – so ist doch kein endlicher Verstand fähig einzusehen ob mich dieß zum Glück oder zum Verderben führt. Doch <denke ich> würde vor der Hand ein Werk des Geistes recht gute Dienste thun; ob ich gleich wenn ich beten könnte, Gott nicht um Verstand sondern um Liebe bitten würde.
Erwarte nicht zu viel von meinem Zu[7]stande und überhaupt; über den gemeinen Pöbel der Sünder setze ich mich hoch weg; aber ich fühle es oft, recht viel bin ich nicht werth. Es gilt hier erst was Du von der Geringfügigkeit aller menschlichen Vortrefflichkeit sehr richtig bemerkst. – Ich wüßte mich auch nicht zu entsinnen daß ich etwas sehr gutes gethan hätte; wohl einiges schlechte und übrigens habe ich gedacht, und bin oft Seelenkrank gewesen. Ich darf mich <noch> kaum einen Mann nennen; was meinem Verstand betrifft so habe ich doch nicht selten die lächerlichsten Irrthümer begangen; ich betrüge mich sehr leicht selbst. Was ich aber eigentlich am meisten an mir zu tadeln habe, dafür finde ich keine Worte, es auszudrücken; es gehört mit dahin daß die seltsamsten Absprünge von der höchsten Höhe zur tiefsten Tiefe meinem Gefühl so gewöhnlich sind.
Dieses sind meine Gedanken über mich; misfallen sie Dir so denke an das herrliche Wort; zwischen uns sey Wahrheit.
Wenn ich ein Gespräch dichten werde, so wird mein höchster Wunsch seyn, alles aus der immensen Eigenthümlichkeit unsrer Nation zu nehmen. – An die Erdichtung eines ächt griechischen Gesprächs wage ich mich nicht. – Es scheint mir zuerst am besten das Große was man um sich sieht und [8] von dem man Theile in sich hat, in der Vortrefflichkeit darzustellen. Und dann sind die meisten unsrer Gedanken nicht neu, aber in ihren feinsten Zweigen und Blättern anders gewachsen und gebildet; und diese Theile sehe ich nicht für unbedeutend an. – Es giebt eine Größe und eine Schönheit für jedes Clima, auch für den Nordpol, und für jedes noch so entartete Geschlecht der Menschen. Unser Geist ist wunderbar biegsam und bildsam, so wie unser Leib.
Auf den deutschen Character ist man noch nicht sehr aufmerksam. Seit einiger Zeit, däucht mich entdeckt zu haben, daß unser Volk einen sehr großen Character hat. So nenne ich den Inbegriff climatischer und geschlechtsmäßiger Vortrefflichkeiten; vollendet sehe ich ihn nur in einigen wenigen großen Männern, verzerrte Züge finde ich <fast> in allen Deutschen Char[akteren]. – Unter den Männern, die der öffentliche Ruf kennt, nenne ich Dir hier Friedrich, Göthe, Klopstock, Winkelmann und Kant. Ich könnte noch viele andre von etwas geringem Gehalt nennen, deren Größe ich auch ursprünglich deutsch finde. Von obiger Art Menschen ist wohl unter allen Geschlechtern der Menschen nicht viel Gleiches zu finden, und sie haben <mehrere> Eigenschaften, wovon nie ein uns bekanntes Volk ein Ahndung gehabt hat.* – [9] Ein andermal mehr davon. – Du wunderst Dich vielleicht daß ich Klopstock oben nannte. Ich habe Frieden mit ihm geschlossen. – Es athmet aus seinen Schöpfungen und seinem Leben eine edle Männlichkeit, Kühnheit, Bestimmtheit, unerschütterliche Beharrlichkeit; er ist ein Mann und ein Mann ist ein so seltnes Wesen, daß ich jeden der es ist in dem Herzen meines Herzens trage, und alles an ihm dulde. Ueber seine Gedichte rede ich wohl einmal umständlicher.
F. S.

Dieser zu verschiedenen Zeiten geschriebene Brief ist den 8ten November 91 abgeschickt.
Ich wiederhohle meine Bitte um baldige Aufklärung.

[5] * daher fällt die gewöhnliche Klage über Mangel an Handlung ganz weg; es ist ein Gedanken-[6]Schauspiel wie Faust.

[9] * Ich sehe in allen besonders den wissenschaftlichen Thaten der Deutschen <nur> den Keim einer großen herannahenden Zeit und glaube daß unter unserm Volke Dinge geschehen werden, wie nie unter einem menschl.[ichen] Geschlecht. Rastlose Thätigkeit, tiefes Eindringen in das innere der Dinge, sehr viel Anlage zur Sittlichkeit und Freiheit finde ich in unserm Volke. Allenthalben aber sehe ich die Spuren des Werdens.
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