Oft schon, mein Bester, war ich im Begriff, meinen Unwillen über die verzoegerte Erfüllung Ihres Versprechens in einem Strom von Vorwürfen zu ergießen; allein der Gedanke, daß Sie durch die häufigen Besuche, die Ihre Rückkehr nothwendig machte[n], durch die Einrichtung in einem neuen Logis und den Zeitaufwand, den Ihr Docentenamt fordert, daran gehindert worden, stimmte mich immer zur Nachsicht gegen Sie. Ihr Brief hat mich iezt ganz versöhnt und für mein bischen Harren reichlich entschädigt! Er hat die Erinnerung der vielen frohen Stunden, welche gemeinschaftliche Unterhaltung, in der wir durch keine Nebenabsicht, sondern blos durch die jedesmalige Eingebung unseres Genius geleitet wurden, uns verschaffte, in mir erneuert und den Wunsch, auf dem ich mich selbst schon einigemale ertappt hatte, aufs neue in mir erregt, daß ich mich noch nicht am Ziele meiner akademischen Laufbahn befinden möchte! Es geht hier, wie bei so vielen andern Gelegenheiten: man lernt das Gute erst schätzen, wenn man es entbehrt und so kurz die Erfahrung auch ist, die ich hier gemacht habe, so reicht sie doch hin, mich von den mancherley Vorzügen der Göttingischen Lebensart zu überzeugen. Mochte sie auch etwas Langeweile mit sich führen, so wars doch mehrentheils meiner Wilkühr überlassen, mich ihr zu entziehn und daß ich mich iezt an das Gegentheil gewöhnen soll, das will meinem Freiheitssinne gar nicht einleuchten. Am meisten aber vermisse ich die Annehmlichkeiten eines Umgangs, wie der unsrige war und wie ich ihn, wenn schon nicht in gleichem Grade der Vertraulichkeit mit einigen wenigen andern genoß! Schwerlich kan er ohne eine gewisse Gleichheit des Alters und der Verhältnisse, unter denen man lebt, Statt finden und schwerlich wird er eine gewisse Dauer und einen immer gleich starken Reiz gewinnen, wenn nicht ein gemeinschaftliches und ich darf hinzusetzes, edleres Interesse als die meisten Menschen zusammenführt, noch hinzukommt! Und wo solten sich alle diese Erfordernisse wol so leicht vereinigen außer G[öttingen]? Rechnen Sie die Leichtigkeit hinzu, mit der man dort bekannt und wenn man sich einander nähern kan, auch vertraut wird und die fast an iedem andern Orte wegfällt, die Zwanglosigkeit, die den G[öttinger] Umgang begleitet, den Vorzug, daß man unter so vielen für seinen Umgang ganz nach seiner Neigung wälen und bei seiner Wal so gewis sein kan, daß sie Kopf und Herz befriedigen werde, und Sie werden in meine Klage gewiß einstimmen.
Abgerechnet diese nicht ganz angenehmen Empfindungen, die die Veränderung meines Aufenthalts zur folge gehabt hat, lebʼ ich ganz froh und genieße der glücklichen Muße, aus der ich noch immer nicht gerissen bin, da die Koenigliche Genehmigung meiner Ansetzung nach immer auf den Fluten des Ozeans schwebt! Ich habe sie dazu genüzt, die hinterlassnen Werke des Koenigs von Preußen, die iezt eben erschienen sind, wenigstens dem größten Theile nach, durchzulesen. Die histoire de mon tems, welche den Anfang dieser interessanten Sammlung macht, enthält die Geschichte seiner Regierung von 1740‒1745 und ist mit allem Feuer der Jugend geschrieben. Voran geht eine Schilderung der europäischen Hoefe zur Zeit, als er seine Regierung antrat, und einige Charakterschilderungen von Regenten und Ministern sind nach meinem Gefühl Meisterstücke! In der ganzen Erzählung verleugnet sich der große Charakter nicht, der den König vielleicht noch höher hebt als seine glänzenden Talente; nirgends trifft man auf eine Spur selbstgefälliger Eitelkeit und partheiischen Selbstlobes! So gerecht er die Verdienste seiner Feinde erkennt, so enthusiastisch er die Tapferkeit seiner Generale und seiner Truppen der Nachwelt zum Muster vorhält, so offenherzig gesteht er alle seine Fehler ein und so wenig eignet er sich selbst einiges Verdienst zu und möchte oft selbst auf Rechnung eines günstigen Zufalls schreiben, was doch nur Folge seiner überdachten Pläne war! An Freimütigkeit hat dieses Buch vielleicht nicht seines gleichen. Die Geschichte des siebenjährigen Kriegs, welche darauf folgt, ist beinahe ganz militärisch und war dafür für mich nicht sonderlich interessant, so sichtbar auch eben der Charakter darin herrscht, der die übrigen Schriften bezeichnet. Nach einigen Bänden Abhandlungen, Gedichten ‒ die nicht gerade zu den besten gehören ‒ folgt endlich die Korrespondenz des Koenigs mit seinen Freunden dʼArgens, dʼAlembert, Voltaire. Sie ist reich an den edelsten Gesinnungen und den fruchtbarsten Wahrheiten, die in dem Munde eines solchen Mannes doppeltes Gewicht erhalten und läßt nie den Koenig durchscheinen, sondern der Freund redet immer zu seinem Freunde; besonders ist in dieser Rücksicht die Korrespondenz mit Argens und Alembert interessant. Seine Gesinnungen über Religion ‒ er bekennt sich überall zum Deismus ‒ Litteratur, Politik und Philosophie sind überall mit einer Freimütigkeit und einer Stärke ausgedrückt, die mich oft entzückt hat. Nur eins wünschʼ ich daraus hinweg: die fast vergoetternde Hochachtung für Voltaire, der doch in so manchem tief unter dem Koenig stand und dem er mit einem Respekt begegnet, der einem ieden lächerlich vorkommen muß, der Voltaires Verdienste nicht mit des Königs Augen betrachtet; seine Vorliebe für französische Litteratur und seine Verachtung der teutschen, in der er nur zu oft seine Ingnoranz verräth, zeigt sich einige male in sehr bittern Sarkasmen. Können Sie einmal Muße genug gewinnen, eine Lectüre von mehreren Bänden zu unternehmen, so schreiten Sie ia zu dieser. ‒ Allein wie ich merke, hat mich Koenig Friedrich fast in eben die Begeisterung versetzt, in die Sie über Mamsel Chiarini geriethen; wenigstens darf ich mir nicht vorwerfen, Ihnen in der Wal des begeisternden Gegenstandes etwas nachgegeben zu haben.
Bürgern hab ich bei seiner Durchreise gesprochen und recht munter gefunden. Fast muß ich fürchten, daß mein schönes Proiekt, wovon ich Ihnen schon gesagt habe, scheitern werde; denn die Epigramme im M[usen-] A[lmanach], besonders das antichristliche: Verzeih! o Vater der neun Schwestern! haben einen Eindruck gemacht, der schwerlich sobald zu verlöschen sein wird!
Ueber dieses sagte mir der Geh[eime R[ath] v. Beulwitz, mit dem ich vor einiger Zeit von Bürgern zu reden Gelegenheit nahm, daß es recht gut sein werde, wenn er G[öttingen] verlasse; denn seine Vorlesungen über die Kantische Philosophie könten doch nicht unterlassen, die Gemüther der studierenden Jugend zu verderben!!! Doch seiʼs unter uns gesagt, wie sichs versteht!
Ich freue mich, daß Sie die Bekanntschaft der Fr[au] v. Berlepsch gemacht haben und daß Sie sie unterhaltend finden; denn ich finde dadurch mein Urteil über sie bestätigt; Sie sehen, wie partheiisch und wie eitel meine Freude ist. Solte sie sich meiner einmal hochgefälligst erinnern, so empfelen Sie mich ihr zu Gnaden. ‒
Was macht denn Junker Beulwiz? Sie erwähnen seiner nur so ganz en passant, daß ich diese Frage schon an Sie thun muß, um von seinem ietzigen Treiben und Thun unterrichtet zu werden. Lebt er noch auf die gewohnte Weise oder ist der Geist des Herrn über ihn gekommen und hat ihn erleuchtet? Er ging wenigstens mit den besten Entschlüssen von hier, allein Sie wissen, wie weit es bei ihm vom Entschluß zur That entfernt ist. ‒ Eben übersehe ich mein Geschreibe und bin fast über meine Geschwäzigkeit böse, da sie mich beinah dem Ungelesenbleiben aussetzt; allein ich hoffe zu ihrer Nachsicht, daß ich es für diesmal noch nicht zu befürchten habe. Grüßen Sie alle meine Bekannte, die sich meiner noch erinnern, vorzüglich Dornford, Ompteda und Beulwitz und leben so wol und so froh als ichs Ihnen wünsche.
Ganz der Ihrige K. v. Arnswaldt.
Spittlern, Federn, Meiners und vorzüglich Heynen empfelen Sie mich aufs beste! ‒ Versuchen Sieʼs doch einmal, ob Sie Ihre schöne Hausgenoßin, von deren Unpäslichkeit Sie schreiben, nicht heilen koennen; Apoll ‒ er ist ia der Gott der Heilkunde, wenn mich meine mythologische Unwissenheit nicht trügt ‒ wird Sie dabei hoffentlich nicht im Stich lassen.