Hochgebohrne Frau Gräfin!
Wir sind endlich am vorigen Sonnabend hier angekommen, gerade einen Monat nach der Abreise von Berlin. Frau von Stael hat Ihren freundlichen Brief erst hier erhalten, zu sehr angegriffen durch alles was sie gelitten, und zugleich von traurigen Geschäften gedrängt, ist sie außer Stande Ihnen für diesen liebreich tröstenden Zuspruch zu danken, und ich ergreife mit Freuden diese Gelegenheit, um Ihnen mein Andenken zu erneuern. Von Weimar aus habe ich Hrn. von Brinkmann Nachricht gegeben, der sie Ihnen vermuthlich mitgetheilt hat. Wie wohl Ihre vortreffliche Freundin dort die Gewißheit ihres Unglücks erfuhr, habe ich doch seitdem noch manche nicht weniger schmerzliche Stunden neben ihr verlebt. Im Verhältniß der Annäherung an die Schweiz wurde sie niedergeschlagner, und es ward schwieriger ihre Aufmerksamkeit für irgend ein Gespräch zu gewinnen. Das Wiedersehen Ihrer Cousine, der Madame Necker geb. Saussure, einer sehr ausgezeichneten Frau, die bey dem Vater in der letzten Krankheit die Stelle seiner Tochter vertrat, verursachte eine sehr heftige Erschütterung. Sie hat die Reise von Zürich bis Bern mit ihr in besondern Gesprächen und beständigen Thränen hingebracht, wovon ich nicht Zeuge war, da ich mit den beyden Söhnen den Umweg über Lucern machte, und erst in Bern die übrige Gesellschaft wieder traf. Die Ankunft in diesem nun verlassenen Schlosse war aber der schrecklichste Augenblick unsrer Reise. Man hatte mit Fleiß ein nicht weit entferntes Nachtlager gewählt, um zeitig am Tage hier einzutreffen. Ein düstres Schweigen hatte sich ihrer den ganzen Morgen bemächtigt, schon von Nion an wurde ihre Spannung gewaltsamer, und jede Bewegung krampfhaft, es mußten beständig flüchtige Reizmittel gebraucht werden, um einer Ohnmacht vorzubeugen, der Kammerdiener vorn auf dem Wagen trieb den Kutscher unaufhörlich schnell zu fahren, um diesen Zeitraum abzukürzen, die Vorhänge waren heruntergelassen, ich mußte sie mit Gewalt niederhalten, da sie jeden Augenblick sie aufheben wollte um das Schloß von fern zu sehen, bey dem Städtchen versammelten sich eine Menge Menschen um den Wagen, bey dem ersten Rasseln auf dem Steinpflaster des Schloßhofes fuhr sie wie vor einem Donnerschlage zusammen, sie stieg nicht, sie stürzte aus dem Wagen, und nie habe ich ein herzzerreißenderes Geschrey gehört als das womit sie halb besinnungslos von ihren Bedienten in das Haus getragen ward. Dieser Zustand dauerte mehre Stunden, bis endlich einige aufgedrungne Arzneyen ein wenig die körperliche Ruhe herstellten. Indessen fand sie gleich Stärke genug in sich, die Papiere ihres Vaters zu lesen. Dieß hat sie seitdem beschäftigt, kein Tag ist hingegangen, wo nicht das Wiedersehen eines Bekannten von neuem ihre Wunden aufgeregt hätte. Es ist ein Wunder, daß sie nicht krank geworden ist, aber bey aller Stärke ihres Gemüths und ihrer Gesundheit bin ich doch nicht außer Sorgen, da der Schmerz nach der ersten Betäubung sich tiefer eingräbt, und das Gefühl des unersetzlichen Verlustes sich täglich erneuert. Sie klagt, daß ihr Geist an Leichtigkeit der Fassungskraft verlohren habe, und gewiß ist es, daß sie sehr verändert ist, und nur selten einmal die ehemalige Lebhaftigkeit aufblitzt. Dieser Aufenthalt ist nicht gemacht, sie zu erheitern: die schöne Natur macht ihr wegen der langen Gewöhnung wenig Eindruck, und die Genfer, die nichts andres als nur besonnener rechnende Franzosen sind, können ihren Geist nicht befriedigen. Die Gesellschaft der Freunde und sobald sie wieder fähig seyn wird, ein Interesse dafür zu fassen, Lectüre, müssen also das beste thun. Constant ist ein unendlich geistreicher Mann, von seltner Feinheit und Anmuth des Witzes. Zu Anfange des Junius erwarten wir Joh. Müller hier, dem ich deswegen nach Schaffhausen entgegen geschrieben, und auf den ich mich, wie Sie denken können, doppelt freue. Vielleicht kommt auch bald Hr. Matthieu de Montmorency aus Paris, auf dessen Bekanntschaft ich sehr begierig bin.
Leben Sie recht wohl, ich muß schließen. Vergessen Sie und die Ihrigen mich nicht ganz: ich würde untröstlich seyn, wenn meine Entfernung mich dem Andenken der ächten Deutschen entzöge, und ich brauche nicht zu sagen, welch ein kostbares Geschenk einige Zeilen von Ihnen mir seyn würden. Von meiner hiesigen Lage erwähne ich nichts, sie ist so wie es sich neben einer Frau von dieser seltnen Seelengröße und Güte von selbst versteht. In der That diese Reise mit allen begleitenden Umständen macht Epoche in meinem Leben, vielleicht hätte ich Frau von Stael ohne dieß Unglück, was sie betroffen nie ganz kennen gelernt. Ich fürchte, daß sie ungeachtet des glänzenden Eindrucks, den sie in Berlin zurückgelassen, doch nicht ganz nach Würde verehrt und geliebt wird. Die französisch gebildeten Deutschen rechnen sie unbefugter Weise zu den ihrigen, sie verdient durch den Ernst und die Reife ihres Charakters von denen erkannt zu werden, die einer höheren Begeisterung fähig sind und vielleicht hat das Geräusch der großen Welt dieß einigermaßen verhindert. Wenn ich wieder in Berlin wäre, würde es mein angelegentlichstes Geschäft seyn, sie zu preisen, doch da Sie und Ihre Frau Mutter als Augenzeugen des ersten Schmerzes gesprochen haben werden, so ist dieß unnöthig. Die besten Empfehlungen an Sie beyde und Ihren Herrn Gemahl von Frau von St.[aël], mit denen ich die meinigen vereinige. Findet dieser Brief Sie noch in Berlin, so bitte ich um meinen verbindlichsten Gruß an Hrn. von Brinkmann.
Gehorsamst
A. W. Schlegel