Ich bin einige Tage in L-a [Lucka] gewesen, die sehr traurig waren. Ich gieng am Sonnabend hinaus, fand sie sehr wohl, ja heiter; ich brachte ihr zwey Briefe von Franz Wenner aus Frankfurt. Der erste enthielt ,Ich kenne Ihre ganze Situationʻ. Der zweite – den sie zuerst erbrach – ,Man weiß es in Maynz: Gr. [Cranz] ist noch daʻ. Sie war vor Schrecken und Schmerz betäubt, und konnte lange Zeit nur einzelne Worte hervorbringen. Sie hat die Tage über unaussprechlich gelitten, ihren eigenen Worten nach, mehr, weit mehr, als je in ihrem Leben. – Die Folgen der unglücklichen Entdeckung wirst Du besser übersehen können <als ich>, da Du von allem unterrichtet bist; der Verlust ihres Witwengehaltes, der Kummer ihrer Mutter (sie weiß es noch nicht, aber Philipp fürchtet in seinem letzten Briefe schon, daß sie Verdacht schöpfen könnte) die Verfolgung der B[öhmer]schen Familie, die vielleicht bis zu Entreißung ihres Kindes gehen [2] könnte. – Ich will Dich mit der treuen Darstellung ihres Schmerzens verschonen; sie würde Dein Herz zerreißen; der erste Ausbruch, da sie mit der Stimme des tiefsten Leidens rief: ‚O meine Mutterʻ und ‚Mein Kind, mein Kindʻ und solche einzelne Worte, aber weit mehr zeigte sich nachher ihre innre Zerrüttung, die beyden Tage über, bald auf diese, bald auf jene Art, in den schnellsten Uebergängen von plötzlichen Thränen zu ganz wilden Einfällen und bis zu dem Scherz und dem Lachen der Verzweiflung. Ihre Gesundheit litt schon die beyden ersten Tage sehr; den Montag brachte sie bis auf einige Viertelstunden ganz im Bette zu. Krampf <im Rücken> und eine heftige Unruhe und Betäubung der Nerven, mit den peinlichsten verwirrten Einbildungen verbunden; der lezte Zustand war ihr unleidlicher, wie die heftigen Schmerzen des ersten. Deshalb aber glaube ich kannst Du ausser Sorgen für die Zukunft seyn; da sie gewiß, wenn auch höchst [3] reitzbar, doch viel <körperliche> Kraft hat. Den Dienstag früh mußte ich herein gehen, um einige Briefe zu besorgen, und meiner eignen Geschäfte wegen. – Sie wollte es Dir verbergen, um Dich zu schonen. Dagegen habe ich denn sehr nachdrücklich gesprochen, und habe Dich auch iezt nicht geschont; weil ich das bey einem Manne für Weichlichkeit halte, zumal da daran liegt, daß Du in Wahrheit weißt, wie es ihr geht. Aber daß man sie nicht schont, vielleicht künftighin auch nicht schonen wird, das ist, wenn es nicht Unbefangenheit ist, wie bey Fr.[anz] W[enner] eine schreyende Schändlichkeit. Ihre Umstände, und das Zusammentreffen so vieler Leiden machen sie höchst reizbar: und ich glaube gewiß, daß sie nicht nur, gesund, die Sache ganz anders sehen, sondern mit Festigkeit und Leichtigkeit sich ganz darüber hinaussetzen würde, so schlimm sie an sich seyn mag.
[4] Du mußt sehr vorsichtig seyn, in dem, was Du ihr ietzt von Sophien schreibst; glaube mir, ich würde Dir es nicht sagen, hätte ich nicht sichre Beweise, daß Du ihr dadurch äusserst wehe thun kannst. Und daraus siehst Du vielleicht am klärsten, daß ihr <jetziger> körperlicher Zustand großen Einfluß auf ihre Seele hat. Ist auch die Art, wie Du sie tröstest, zur Standhaftigkeit aufforderst ganz die rechte? – Finde das nicht unbescheiden; und – ich habe sie gesehn, und Du kennst ihre Lage nicht im voraus. Sie selbst sagte; ‚ich fürchte mich, daß W.[ilhelms] nächster Brief <wieder> was enthält, was mir ietzt Schmerzen machtʻ. Du könntest ihr eine große Freude mit dem Bilde von Dir machen. Darfst Du Tischbein nicht um Beförderung bitten? Ihr kleines ländliches Zimmer soll damit geschmückt werden, und zwar an die Stelle eines Spiegels, der darin fehlt, wo wir für ietzt einen alten Eichenkranz hingehängt haben. Die Gegend von L-a [Lucka] ist traurig. [5] Die Familie, in der sie lebt, besteht aus einem kranken, geizigen, grillenhaften Artzte, und aus einer gedrückten und gequälten Anverwandtschaft. In der Hauptsache können wir aber zufrieden seyn; der Mann ist als geschickter Accoucheur bekannt, sollte er auch sehr krank werden, oder gar sterben, so ist doch einer auf der Nähe zu haben; sie lebt völlig verborgen da; und auf alle Fälle ist es besser, daß sie im Altenburgischen ist. Im Sächsischen ist die Polizey so wachsam, daß es sehr schwer halten würde, lange unerkannt zu bleiben. An unsrer Vorsicht fehlt nichts. Wie kannst Du nur denken, ich würde Deinen Brief ohne Umschlag schicken? Ich besorge alle Kleinigkeiten; wir haben das am besten gefunden, da ich doch nur einen neugierigen Bedienten in Ordnung zu halten habe, Göschen ihrer sechs, die weitläuftige Familie, und den vielen Zuspruch nicht in Anschlag zu bringen. Ich lebe ietzt so einsam, daß ich sehr füglich einige Tage abwe[6]send seyn kann, ohne daß es irgend iemand bemerkt. Von der Seite ist gar nichts zu befürchten.
Mein Brief enthält nicht viel Erfreuliches. Das Einzige was ich thun kann, Dir den nothwendigen Schmerz und Besorgniß zu versüßen, (schonend bin ich nicht, aber doch auch nicht gefühllos) ist daß ich Dir recht oft Nachricht gebe, und ich verspreche sie Dir ganz sicher den nächsten Posttag. – Ich kann mich nicht enthalten, Dir eine Stelle aus Ihrem lezten Zettel an mich herzusetzen (da Du doch zudem heute nichts von ihr bekommst) die Dir nicht neu seyn wird, aber <etwas, was du doch wohl> zum hundertstenmale noch hörst. – ,Sie fühlen welch ein Freund mir W.[ilhelm] war. Alles, was ich ihm jemals geben konnte, hat er mir iezt freywillig, uneigennützig, anspruchslos vergolten, durch mehr als hülfreichen Beystand. Es hat mich mit mir ausgesöhnt, daß ich ihn mein nennen konnte, ohne daß eine blinde unwiederstehliche Empfindung ihn an mich gefesselt hielt. – Sollte es zu viel seyn, einen Mann nach seinem Betragen [7] gegen ein Weib beurtheilen zu wollen, so scheint mir doch W.[ilhelm] in dem, was er mir war, alles umfaßt zu haben, was man männlich und zugleich kindlich, vorurtheilslos, edel und liebenswerth heißen kann.ʻ –
Es scheint mir ietzt, als hätte ich in meinem lezten Briefe manchem einen falschen, vielleicht zu schwarzen Anstrich gegeben. – Sie ist doch eigentlich noch hier nicht ganz entdeckt; und wenn sie es wäre, was kann uns das schaden? Göschen und ich können auch vielleicht die Wenigen, die auf die rechte Spur gebracht sind, irre machen oder zum Schweigen bringen. Und das hoffe ich selbst von meiner Schwester, wenn sich das schlimmste zutragen sollte. Du könntest nach dem was ich darüber schrieb, denken, ich würde voreilig handeln. Ich wollte damit nur andeuten, was aus Deinem Auftrage im Nothfalle zu folgen schien. Es verstand sich von selbst, daß ich aufschob, so lange es nur eine Möglichkeit war, um alles auf Dich ankommen zu lassen; um so mehr [8] da sie sagte, sie sey unzufrieden, daß Du G.[öschen] hättest eine Unwahrheit vermuthen lassen. Glaube auch nicht daß ich diesem mehr als Winke gegeben habe; aber freylich hat er sie (vielleicht mit Deinem Briefe zusammen) für Gewißheit genommen. Ich stehe mich, Deinem Verlangen gemäß, sehr gut mit ihm. Vorher hatte ich, aus den geschriebenen Ursachen, eine Eröffnung vermieden. –
Es ist sehr gütig, daß C.[aroline] meinen bloßen guten Willen für Euch, den ich so gar nicht durch die That beweisen kann, mir für etwas anrechnen will. Von Dir erwarte ich <aber> keinen Dank für etwas, was sich von selbst versteht: auch keine Entschuldigungen, über etwas, was mir gar nicht einfällt, anders zu erwarten. Dergleichen ist mir empfindlich. – Doch spricht Dich das gar nicht von der Pflicht los, mir zu schreiben. ,Was sollen Dir meine Briefeʻ, sagst Du mir schon zweymal, ‚bey ihrem Gespräche?ʻ – O, ich könnte fast selbst so fragen, seit Du nur mit mei[9]nem Verstande zu thun haben willst. – Die Musik von Reichardt, die Anthusa und der Dante liegen bereit; ich warte nur noch auf die Proben zum Wieland von Göschen. Einen andern D.[ante] kann ich nicht schaffen. – An Mastiaux habe ich auch geschrieben, aber nur ziemlich kurz; eine Antwort werden wir wohl nicht bekommen. C.[aroline] bedauert iezt, daß sie nicht zu ihm gegangen ist; die schöne Rheingegend, mehr Bequemlichkeit, vielleicht mehr Sicherheit wegen der Nähe so vieler Städte, hiesiger Gegend, wo sie Bekannte hat, können Dir das erklären. Sie bereut es aber so lebhaft, daß ich glauben muß ihre Umstände haben auch hier auf ihre Vorstellungen Einfluß. Sie hat Dirʼs nicht geschrieben, weil sie Vorwürfe von Dir fürchtete, daß sie nicht gleich ihren Plan besser gemacht. – Auslagen habe ich nicht für sie, oder nur unbeträchtliche. Meine Bitte des lezten Briefes wiederhohle ich aber dennoch (um zwey, drey, oder vier Ducaten) weil der gänzliche Mangel des Geldes mich freylich leicht einmal ausser Stand setzen könnte, ihr eine Kleinigkeit zu verschaffen, die sie nur von mir haben kann, oder ganz entbehren muß. Du wirst Dich wundern; denn wenn einem so viel fehlt wie mir, so pflegt man wohl das Wenige zu haben. Aber ich versichre Dich, daß ich mir [10] außer der Zeit, vor Michaelis, auch das ganz nothwendige Geld kaum zu schaffen weiß. – Ueberall ist ja die ganze Wirthschaft so lächerlich und wunderbar gewesen, daß sie recht dazu ausgesonnen scheint, mich durch Kleinigkeiten ins Verderben zu stürzen. – Ich erwähnte der Auslagen nur deshalb, damit Du nicht etwa denken könntest, ich wollte <zur Unzeit> den Großmüthigen spielen, welches mir sehr übel stehen würde, da ich so sehr Dein Schuldner in diesem Stücke bin; berechnen kann ich sie nicht; ich wiederhohle meine Bitte einzig in der Rücksicht, weil sie mittelbarer Weise darunter leiden könnte; ich werde treu damit haushalten. Könnte ich ihr nur manche Bequemlichkeit schaffen, die ihr durchaus fehlt! Mit den Möblen wird es nun gehn, da ihre Sachen kommen. – Es ist aber doch übel, daß sie in ihren Umständen <sie hat viel schlaflose Nächte> bis dahin nicht einmal eine Bergere, und dazu ein unbequemes Bette hat. Der Tisch ist gar nicht passend für eine Kranke, oder Schwächliche. Da läßt sich nun nichts thun, als hoffen, daß einige Gewohnheit auf dem Kst. [Königsstein] und in Kg. [Kronenberg] es ihr erträglich und ihrer Gesundheit wenigstens nicht schädlich macht. Ihre und des Kindes [11] Mäßigkeit ist mir recht auffallend gewesen. –
Wir finden am wahrscheinlichsten, daß die Fln. [Forkeln] die Verrätherin gewesen, aus Neid über ihre frühere Befreyung. Ihr sey es schlechterdings unwahrscheinlich, daß es Gr. [Cranz]* sey; ein drittes gebe es nicht. Das erste glaube ich, weil es so ganz schändlich, und doch sehr erklärbar ist. Aber mir däucht; über das lezte sollte sie gewisser seyn können. Kannst Du mir über ihre Verbindung mit diesem Gr. [Cranz] etwas sagen? Diensteifer giebt mir dießmal die Frage nicht ein, aber Neugier doch auch nicht. Ich glaube Du räthst den Sinn meiner Frage, und so darfst und kannst Du sie beantworten. Sie hat mir sehr kurz die Hauptsache gesagt; aber ich fürchtete sie zu reizen, und die meiste Zeit war sie auch ganz unfähig zu jedem Gespräch, geschweige zu einem solchen. – Es war mir unerwartet, alles müßte auch auf Fr. [Forster] führen. Ich weiß nicht, warum es mich im ersten Augenblick so bestürzt machte. –
Manuscripte erwarte nur noch lange nicht, und Fragmente will ich nicht schicken. Du wirst höchst begreiflich finden, daß mir für ietzt Ausführung und Vollendung unaussprechlich schwer wird; meine Absichten müßten weniger umfassend und groß seyn, wenn das [12] nicht so wäre. Wenn etwas vollendet seyn wird, so erhältst Duʼs sogleich, und dann mache ich große Ansprüche auf Dein ganzes Urtheil. Sey nicht böse, halte mich nicht für lässig. Die erste Woche war ich fast unaufhörlich bey ihr, und nur damit beschäftigt. – Störungen sind seit der Zeit schon oft wieder gewesen, häufige Briefe, schlechte Gesundheit, kleine Geschäfte. Sehr viel reine Zeit ist also nicht übrig geblieben. Und diese Zeit ist noch nicht Muße. ,Die ernste Liebe der heiligen Wahrheit füllt nur freudige Herzenʻ, schrieb ich neulich einem Freunde. Wenn das nicht wäre, so war ich freilich noch nie so fähig, einem großen Gegenstande mich ganz hinzugeben, die Welt zu vergessen, und in eine selbsterschaffne Natur zu versinken. Die Mutter der Begeistrung ist die Einsamkeit. Ich lebe sehr einsam, und auch im innersten Herzen fühle ich mich einsam. Die Bande oder Ketten der Natur habe ich zerrissen, und ich fühle immer mehr, daß die Bande meiner Erfindung schwach und kraftlos sind, ich stehe einzeln, gleichsam nur ausserhalb der Welt, ich bin sehr überflüssig, und ich wüßte auch nichts, dessen ich bedürfte. – Einiges in meinem lezten Briefe mußtest Du als solche Ansichten eines Einsamen beurtheilen, sonst könntest Du sehr ungerechte Vorwürfe daraus machen. Doch sollst Du nächstens den deshalb versprochnen [13] Brief haben.
Ich wollte Dir noch sehr viel von C.[aroline] schreiben, aber ich kann nie Worte finden, wenn ich von ihr reden will. Was sie von mir denkt, glaube ich ohngefähr zu rathen (was Du von ihrer Menschenkenntniß sagst, ist mir sehr einleuchtend); die Hoffnungen, die ich selbst und etwa ein Freund von mir haben, die hat sie nicht; und wie sollte sie das auch? – Ich habe Verstand, aber bin so unerfahren, beschränkt, und vor allem – es wäre ungerecht mir Seele abzusprechen, aber die Seele der Seele, lieber Wilhelm, <die> fehlt mir doch ganz offenbar, nehmlich der Sinn für Liebe. – Vielleicht schätzt sie eine gewisse Kraft des Charakters an mir; (die sich doch sehr ungleich ist) aber dafür würde es mich auch gar nicht wundern, wenn sie mich rauh fände. Ich bin es auch; und dann zwingt mich die Ehrfurcht, sie als Mann zu behandeln. – Wie äusserst fremd und fern ich ihr bin, kanst Du allenfalls denken: wir sind zusammen, nicht weil wir zusammen gehören, sondern weil wir uns in demselben Hause treffen (wo das Haus liegt will ich Dich rathen lassen). Wenn das nicht so ein übelklingendes Wort wäre, so möchte ich sagen, wir könnten als Geschwister zusammen leben. Somme tout ich [14] bin höchst gewöhnlich, aber für einen Menschen immer gut genung. – Das Kind machte beym ersten Anblick einen ungünstigen Eindruck auf mich, weil es schielt, und ein wenig häßlich ist (das kann sich noch sehr ändern). Jezt gewinne ich das kleine einfache Wesen lieb, um seiner Unverdorbenheit und guten Anlagen, und Treue für die Mutter. Von ihr ist mir ietzt noch ganz unmöglich zu schreiben. Doch kann ich sagen: Einfachheit und ein ordentlich göttlicher Sinn für Wahrheit, habe ich durchaus nicht erwartet, nach dem was ich wußte und gelesen hatte; und doch ist es das, was meiner Eigenthümlichkeit am meisten schmeichelt, und ihr Schmerz bringt sie mir am nächsten. – Ich glaube man kann sie nicht kennen, wenn man sie nicht liebt, oder von ihr geliebt wird.
Ich verlange mehr zu wissen von Sophien oder von S. wie Du sie immer nennst, gewiß aus Furcht vor der Philosophie, Deiner Todfeindinn. Weiß ich doch von der schönen Frau <kaum> mehr, als daß sie Dich liebt, und daß sie Billete geschrieben, wovon mich einige entzückt haben. Ueberall ist es sündlich – Deine Vertraulichkeiten kommen immer nur wie Ueberschwemmungen, wenn [15] das volle Herz überbrauset, und dann verschwindet gleich wieder alles hinter den Ufern der Trägheit und des Mistrauens zurück. Gieb auch einmal eine Vertraulichkeit als großmüthiges Allmosen. –
Einen drollichten Zug von Augusten muß ich Dir doch erzählen. Sie rühmt sich sehr, daß sie der Mutter unentbehrlich sey. ,Wenn ich nicht wäre, so würdest Du Dich von der Schlegelsucht gar nicht zu retten wissen.ʻ Wie sie nach L-a [Lucka] abreißten, ich den Abend vorher Abschied nahm, lag sie schon im Schlaf. Wie sie geweckt war, sagte sie. ,Mutter wirst Du von diesem Schl.[egel] auch die Schlegelsucht kriegen?ʻ
Wundre Dich nicht, daß ich Dir so viel vorschwatze, was Du vielleicht nicht einmal aufmerksam lesen kannst, nach dem Anfang dieses Briefes. – Ich weiß, was ich Dir geschrieben habe, und ich fühle es auch; ich suchte eben deshalb Zerstreuung, vielleicht ist es Dir auch so, wenn Du die Nachricht empfängst. Ich durfte Dir nichts verhehlen; ich weiß wie viel Deine Briefe ihr sind; aber sie könnens nicht seyn, wenn man sich nicht die Wahrheit zu sagen traut. – Ich hätte dessen wegen Soph.[iens] nicht erinnert, wenn ich nicht die unzweydeutigsten Zeichen davon hätte. Ich gebe ihr deshalb [16] nichts Kleinliches Schuld; es ist höchst natürlich in ihrem Zustande. Denn sonst, bin ich gewiß, daß man wahr gegen sie seyn darf. Und größeres lässt sich von keinem Menschen sagen.
Ich hätte einen so hoffnungsvollen Anfang, als unsre Mittheilungen über Dichtkunst sind, nicht unterbrechen sollen: ich hoffe <aber> das reichlich ersetzen zu können. Ich finde es immer mehr die herrlichste Art über diesen Gegenstand, wo Vollendung im Untersuchen nicht so früh zu hoffen ist, zu den reichhaltigsten Aufschlüssen zu kommen; einer regt den andern an, eine Ansicht gebiert viele andre, und so werden wir mit dem ganzen Umfang unsres Stoffs bekannt, und entgehen der drohenden Gefahr die unendliche Natur in einen engen Begriff eindrücken zu wollen. Wir sind aber vielleicht noch nicht <ganz> auf dem rechten Wege gewesen, besonders ich. Ich schwankte immer, ob ich Dir ein Werk schicken sollte, oder ob ich schreiben sollte, wie Gott will, und wie die Feder läuft. Ich habe nun das lezte gewählt: mein erster Brief aber hat alles Unbehülfliche und Schwerfällige eines halbangefangenen [17] Werkes an sich, und alles Undurchdachte, Unausgeführte eines Briefes. Und Du hast Dich durch meine mir natürliche Art, es zu sagen, verleiten lassen, es viel zu sehr als vollendete Ueberzeugungen, nicht als hingeworfene Einfälle, und unentwickelte Wünsche von Gedanken anzusehen. – Das Einzige was ich Dir vorwerfen kann. Wenn es nicht noch wäre, daß Du selbst nichts giebst, als nur auf Veranlaßung, zu sehr wiederlegst, was ich schon selbst verworfen, oder was auch nicht verstanden ist. Der Vorwurf der Sprünge und Orakel trifft mich glaube ich nicht; es kann seyn, daß ich auch im Denken gewaltsam verknüpfe; aber Du zieltest auf Urtheile, die keinen Erweiß zulassen, wie Begriffe und allgemeine Sätze, sondern Sache des Gefühls sind, die immer ihr Eigenthümliches hat, wie ich und jeder Vernünftige sich bescheidet. – ,Du glaubst nicht, daß es rathsam sey, bey Untersuchungen über die Poesie, von ihren höchsten Gesetzen auszugehen.ʻ – Es ist mir nicht eingefallen einen Dichter nach Begriffen a priori construiren zu wollen. Für den Schöpfer giebt es keine Gesetze, aber Richter kann man nur seyn, mit Sinn, nach Gesetzen. – Ich nahm den Weg, der mir natürlich war, und daß er das war, wirst Du sehr begreiflich finden, wegen einiger Gewohnheit und Uebung jeden gegebenen Stoff nach den <wesentlichen> Zwecken des Verstandes [18] und der Vernunft in ein vollständiges Ganzes zu ordnen. Und dieses hat auch seinen Werth. (Mein Wunsch war, daß jeder nach seiner Natur thäte was er könnte, für die Untersuchung selbst und um sie gemeinschaftlich zu machen). Ich muß zwey Dinge gegen Dich in Schutz nehmen die Du verkennst, das System und das Ideal. Ich weiß, der schändliche Mißbrauch sinn- und seelenloser Vernünftler hat diese Namen für Dich sehr besudelt; aber Du siehst nur darauf und verkennst, verachtest ungerechter Weise die köstlichen lauten Urkunden unsres göttlichen Adels. – Was wir in Werken, Handlungen, und Kunstwerken Seele heißen (im Gedichte nenne ichs gern Herz) im Menschen Geist und sittliche Würde, in der Schöpfung Gott, – lebendigster Zusammenhang – das ist in Begriffen System. Es giebt nur Ein <wirkliches> System – die große Verborgene, die ewige Natur, oder die Wahrheit. – Aber denke Dir alle menschliche Gedanken als ein Ganzes, so leuchtet ein, daß die Wahrheit, die vollendete Einheit das nothwendige obschon nie erreichbare Ziel alles Denkens ist. – Wir Leute sind also auch nicht unnütz, wenn wir auch [19] nicht so gute Beobachter seyn sollten, wie Ihr Propheten; Ihr dürft nicht einseitig eine heilige Anlage der Menschheit geringschätzen. Und laß michs hinzusetzen, daß der Geist des Systems, der etwas ganz anders ist als ein System, allein zur Vielseitigkeit führt – welches paradox scheinen kann, aber sehr unläugbar ist.
Die Quelle des Ideals ist der heiße Durst nach Ewigkeit, die Sehnsucht nach Gott, also das Edelste unsrer Natur. – Einige die es verkennen, wähnen es streite mit der Natur, die doch nur in Eintracht mit dem Geiste das wahrhaft Große erzeugt. Die Begeistrung ist die Mutter des Ideals und der Begriff sein Vater. – Was ist denn unsre Würde, als die Kraft und der Entschluß Gott ähnlich zu werden, die Unendlichkeit immer vor Augen zu haben? – Das regsame Streben des Handelns, der höchste Maaßstab des Urtheils schließt ja gar nicht aus alle Tugenden der Empfänglichkeit, sondern kann ja nur mit ihnen bestehn.
Nächstens mehr.
[20]
[11] *der noch immer als Geissel in Maynz ist,