• Karl August Moritz Schlegel to August Wilhelm von Schlegel

  • Place of Dispatch: Göttingen · Place of Destination: Jena · Date: 01.04.1797
Edition Status: Newly transcribed and labelled; double collated
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    Metadata Concerning Header
  • Sender: Karl August Moritz Schlegel
  • Recipient: August Wilhelm von Schlegel
  • Place of Dispatch: Göttingen
  • Place of Destination: Jena
  • Date: 01.04.1797
  • Notations: Da der Brief im Druck nur teilweise wiedergegeben ist, wurde er neu transkribiert. – Empfangsort erschlossen.
    Printed Text
  • Provider: Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
  • OAI Id: 362657327
  • Bibliography: Waitz, Georg: Caroline und ihre Freunde. Mittheilungen aus Briefen. Leipzig 1882, S. 39‒40.
  • Incipit: „[1] Bester Bruder,
    Schon über ein halbes Jahr bin ich Mitbürger der Vaterstadt Deiner lieben Frau, wovon Ihr Euch doch gewiß noch [...]“
    Manuscript
  • Provider: Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
  • OAI Id: DE-1a-34097
  • Classification Number: Mscr.Dresd.e.90,XIX,Bd.23,Nr.95
  • Number of Pages: 4S. auf Doppelbl., hs. m. U.
  • Format: 20,9 x 15,4 cm
  • Editors: Bamberg, Claudia · Varwig, Olivia
[1] Bester Bruder,
Schon über ein halbes Jahr bin ich Mitbürger der Vaterstadt Deiner lieben Frau, wovon Ihr Euch doch gewiß noch manchmal unterredet, und noch habe ich Dir keine Zeile von hier geschrieben, und habe in keiner andern Gemeinschaft mit Dir gestanden, als daß ich Deine und Deiner lieben Frau Briefe, die ich etwa zu lesen habe bekommen können, mit größtem Interesse und mit innigster Theilnehmung gelesen habe. Aber ich habe mich in meine neue Carriere hinein arbeiten müssen; und selten bin ich zur freundschaftlichen schriftlichen Unterredung aufgelegt gewesen. Unsre Klagen über Göttingen werden Dir schon manchmal zu Ohren gekommen seyn. Ich hoffte nicht ohne Grund ein verändertes, verbessertes, geselligeres und humaneres Göttingen wieder zu finden; aber es ist nur gar zu sehr das alte geblieben, und die insipiden Damensgesellschaften ungerechnet, die meiner Frau eine Horreur sind, haben wir unsern Winter sehr einsam und eintönig zugebracht. Ungeachtet meines Enthusiasmus für Litteratur hat der Umgang mit akademischen Handwerksgelehrten, die lediglich für ihr Fach, für ihre Vorlesungen, Bücher und Zeitschriften Interesse haben, wenig anziehendes für mich. Ueberhaupt glaube ich, daß man auf Universitäten weit weniger allgemeine Bildung antrifft, als in andern größeren und mittlerern Städten. Spittlers Abgang wird als eine ganz gleichgültige Neuigkeit im Vorbeygehen erzählt, und man meint, daß seine Stelle durch andre hiesige jüngere Gelehrte völlig ersetzt werden könne. Die Religion ist denn hier ‒ Dank sey den unberufenen Aufklärern, die hier seit zwanzig Jahren ihr Wesen getrieben haben, und die von den wahren Bedürfnissen der Menschheit auch nicht einmal die entfernteste Ahndung haben! ‒ in einen [2] gar jämmerlichen Verfall gerathen. Und schon dies allein würde hinreichend seyn, mir meinen hiesigen Aufenthalt zu verleiden und mir den sehnsuchtsvollen Wunsch nach einer baldigen Veränderung einzuflößen. Doch, mein Brief soll nicht mit Klagen gefüllt werden. Die letzte Zeit habe ich mehrere Wochen sehr an katarrhalischen Beschwerden gelitten, und leide noch daran; und ich schiebe es auf die Veränderung des Climas und auf das hiesige verdammte Kalkwasser, daß ich so sehr dadurch angegriffen worden bin. Vielleicht mache ich in diesen Tagen einmal wieder einen Lauf nach Moringen, um mich ganz zu erholen. Da, in der kleinen traulichen Wirthschaft bin ich ganz zu Hause und athme freyer.
Bey meinem Misvergnügen über eigne Angelegenheiten habe ich doch das Interesse für die Angelegenheiten derer, die meinem Herzen werth sind, nichts weniger als verloren. Recht innig freue ich mich Deines häuslichen Glücks, Deiner allerliebsten Einrichtung, Deiner interessanten Reisen, Deines litterarischen Ruhmes. Ich denke, ich will es immer so ziemlich auf den Punkt treffen, welche Recensionen von Dir sind. Deine Arbeiten finden auch hier allgemeinen Beyfall, und an Heyne hast Du gewiß noch immer einen großen Gönner, der Deine tiefe Einsicht in den Mechanismus der Sprache und des Versbaues in der Recension über Voß nicht genug bewundern konnte. Ueberhaupt, lieber Bruder, glaube ich, daß Du Dich noch auf Deiner litterarischen Carriere allgemeiner Achtung und Liebe zu erfreuen hast. Und ich denke, das ist ein Gut, was nicht verscherzt werden darf. Nimm mir daher meinen freundschaftlichen und brüderlichen Rath nicht übel, daß Du in Absicht der Xenien nicht Parthey ergreifst, und die Recension des Schillerschen Musenallmanachs, wenn sie Dir angetragen werden sollte, auf eine gute Art ablehnest. Nicolai’s Anhang war doch wirklich brav gearbeitet; und selbst die Senilis garrulitas paßte charakteristisch zum [3] Ganzen. Versäume doch aber ja nicht über der Beurtheilung fremder Arbeiten die Ausführung eigener Plane. Fritzens Griechen und Römer habe ich mit Wohlgefallen über seinen Scharfsinn und seine ausgebreiteten Kenntnisse gelesen. Er mag sehen, wie er die vielen gewagten Behauptungen, deren historischer Grund zum Theil nicht allzu fest seyn möchte, durchsetzen will. Seinen didactischen Stil muß er noch mehr ausbilden; er ist noch zu fragmentarisch und aphoristisch. Meiner erinnert er sich, wie es scheint, gar nicht mehr. Ich habe doch auch schon in diesem ersten Winter zu einigen litterarischen Arbeiten Muße gewonnen. Ich recensire hin und wieder. Heyne hat mir auf eine sehr schmeichelhafte Art die Theilnahme an den hiesigen Anzeigen angeboten, hat aber noch nicht mit sich eins werden können, was für Arbeiten er mir zutheilen soll, ohne Collisionen zu verursachen. Jetzt breche ich einmal mit einigen Herren Kantianern eine Lanze, aber nicht mit dem furchtbaren Fichte, dessen Philosophie ich übrigens für die ärgste Sophistick und für den wahren Wolfianismus in nuce halte. Schade, daß er so vielen jungen Leuten den Kopf verdreht. Sein System ist aber gewiß, wie das Reinholdische, nichts als eine Leuchtkugel, die schnell zerplatzen wird. Mit Niethammers Recension konnte ich wohl zufrieden seyn, ob mich gleich das, was er zu meiner Ueberzeugung Belehrung sagt, im geringsten nicht überzeugt hat. – Nun noch eine kleine litterarische Anecdote. Eine gequetschte Wespe hieselbst füllt ihren Stachel mit Gift; und das ist denn ganz in der Natur einer Wespe. Der theure Herr Reinhardt kann das nicht verdauen, was Du gegen ihn gesagt hast; – und freylich, um es zu verdauen, müßte er einen Magen aus Stahlfedern haben. Er bereitet sich zur öffentlichen Fehde mit Dir, und glaubt in dem Nachlaß der Bürgerschen Papiere Pfeile zu finden, deren er sich gegen Dich bedienen kann. Er meint, beweisen zu können, daß Du Dir Deine Aufsätze von über Dante von Bürger hast corrigiren lassen. Ich weiß sehr wohl, wie die Sache zusam[4]menhängt; ich erzähle es aber ganz so, wie ein litterarischer Anecdotenjäger es mir hinterbracht hat, und es wird Dir vielleicht nicht unangenehm seyn, auf den Angriff bereitet zu seyn.
Du reist mit Deiner Caroline nach Dresden, und an das öde Göttingen wird nicht gedacht. Welche Freude würde es uns seyn, Euch einmal in unserm Hause bewirthen zu können. Nun müssen wir es bey bloßen freundschaftlichen Empfehlungen an Dich und Deine liebe Frau bewenden lassen. Letzterer wird es interessant seyn, zu hören, daß meine Frau in ihrer Schwangschaft sich recht brav verhält, und sich völlig wohl befindet, unterdeß wir übrigen stöhnen und stümpern. Das wird denn nun noch in unsrer einförmigen Lebensart eine angenehme Veränderung verursachen, und laß nur Deine liebe Frau dem guten Beyspiele folgen. Meine beiden Kinder machen mir viele Freude. Minchen erwirbt sich allenthalben Liebe. Bey Gustchen melden sich bisweilen schon die Flegeljahre an, weil ihm leider die zarte Mutterliebe gar zu sehr gefehlt hat. Er ist aber doch, trotz seiner Ungeschmeidigkeit, ein biederer und Herzensguter Junge. Ein junger Lommatsch, Sohn des Superintendenten, der mit unsrer Familie immer in genauer Verbindung gestanden hat, kömmt bald in die Nachbarschaft von Jen[a], wo er Prediger wird. Er wird Dich gewiß aufsuchen. Du wirst an ihm einen liebenswürdigen Mann finden, und ich habe manche angenehme Stunde mit ihm zugebracht. Lebe recht wohl, und vergiß meiner nicht ganz.
Der Deinige
K. A. M. Schlegel.
Göttingen
d. 1. Apr. 1797.
[1] Bester Bruder,
Schon über ein halbes Jahr bin ich Mitbürger der Vaterstadt Deiner lieben Frau, wovon Ihr Euch doch gewiß noch manchmal unterredet, und noch habe ich Dir keine Zeile von hier geschrieben, und habe in keiner andern Gemeinschaft mit Dir gestanden, als daß ich Deine und Deiner lieben Frau Briefe, die ich etwa zu lesen habe bekommen können, mit größtem Interesse und mit innigster Theilnehmung gelesen habe. Aber ich habe mich in meine neue Carriere hinein arbeiten müssen; und selten bin ich zur freundschaftlichen schriftlichen Unterredung aufgelegt gewesen. Unsre Klagen über Göttingen werden Dir schon manchmal zu Ohren gekommen seyn. Ich hoffte nicht ohne Grund ein verändertes, verbessertes, geselligeres und humaneres Göttingen wieder zu finden; aber es ist nur gar zu sehr das alte geblieben, und die insipiden Damensgesellschaften ungerechnet, die meiner Frau eine Horreur sind, haben wir unsern Winter sehr einsam und eintönig zugebracht. Ungeachtet meines Enthusiasmus für Litteratur hat der Umgang mit akademischen Handwerksgelehrten, die lediglich für ihr Fach, für ihre Vorlesungen, Bücher und Zeitschriften Interesse haben, wenig anziehendes für mich. Ueberhaupt glaube ich, daß man auf Universitäten weit weniger allgemeine Bildung antrifft, als in andern größeren und mittlerern Städten. Spittlers Abgang wird als eine ganz gleichgültige Neuigkeit im Vorbeygehen erzählt, und man meint, daß seine Stelle durch andre hiesige jüngere Gelehrte völlig ersetzt werden könne. Die Religion ist denn hier ‒ Dank sey den unberufenen Aufklärern, die hier seit zwanzig Jahren ihr Wesen getrieben haben, und die von den wahren Bedürfnissen der Menschheit auch nicht einmal die entfernteste Ahndung haben! ‒ in einen [2] gar jämmerlichen Verfall gerathen. Und schon dies allein würde hinreichend seyn, mir meinen hiesigen Aufenthalt zu verleiden und mir den sehnsuchtsvollen Wunsch nach einer baldigen Veränderung einzuflößen. Doch, mein Brief soll nicht mit Klagen gefüllt werden. Die letzte Zeit habe ich mehrere Wochen sehr an katarrhalischen Beschwerden gelitten, und leide noch daran; und ich schiebe es auf die Veränderung des Climas und auf das hiesige verdammte Kalkwasser, daß ich so sehr dadurch angegriffen worden bin. Vielleicht mache ich in diesen Tagen einmal wieder einen Lauf nach Moringen, um mich ganz zu erholen. Da, in der kleinen traulichen Wirthschaft bin ich ganz zu Hause und athme freyer.
Bey meinem Misvergnügen über eigne Angelegenheiten habe ich doch das Interesse für die Angelegenheiten derer, die meinem Herzen werth sind, nichts weniger als verloren. Recht innig freue ich mich Deines häuslichen Glücks, Deiner allerliebsten Einrichtung, Deiner interessanten Reisen, Deines litterarischen Ruhmes. Ich denke, ich will es immer so ziemlich auf den Punkt treffen, welche Recensionen von Dir sind. Deine Arbeiten finden auch hier allgemeinen Beyfall, und an Heyne hast Du gewiß noch immer einen großen Gönner, der Deine tiefe Einsicht in den Mechanismus der Sprache und des Versbaues in der Recension über Voß nicht genug bewundern konnte. Ueberhaupt, lieber Bruder, glaube ich, daß Du Dich noch auf Deiner litterarischen Carriere allgemeiner Achtung und Liebe zu erfreuen hast. Und ich denke, das ist ein Gut, was nicht verscherzt werden darf. Nimm mir daher meinen freundschaftlichen und brüderlichen Rath nicht übel, daß Du in Absicht der Xenien nicht Parthey ergreifst, und die Recension des Schillerschen Musenallmanachs, wenn sie Dir angetragen werden sollte, auf eine gute Art ablehnest. Nicolai’s Anhang war doch wirklich brav gearbeitet; und selbst die Senilis garrulitas paßte charakteristisch zum [3] Ganzen. Versäume doch aber ja nicht über der Beurtheilung fremder Arbeiten die Ausführung eigener Plane. Fritzens Griechen und Römer habe ich mit Wohlgefallen über seinen Scharfsinn und seine ausgebreiteten Kenntnisse gelesen. Er mag sehen, wie er die vielen gewagten Behauptungen, deren historischer Grund zum Theil nicht allzu fest seyn möchte, durchsetzen will. Seinen didactischen Stil muß er noch mehr ausbilden; er ist noch zu fragmentarisch und aphoristisch. Meiner erinnert er sich, wie es scheint, gar nicht mehr. Ich habe doch auch schon in diesem ersten Winter zu einigen litterarischen Arbeiten Muße gewonnen. Ich recensire hin und wieder. Heyne hat mir auf eine sehr schmeichelhafte Art die Theilnahme an den hiesigen Anzeigen angeboten, hat aber noch nicht mit sich eins werden können, was für Arbeiten er mir zutheilen soll, ohne Collisionen zu verursachen. Jetzt breche ich einmal mit einigen Herren Kantianern eine Lanze, aber nicht mit dem furchtbaren Fichte, dessen Philosophie ich übrigens für die ärgste Sophistick und für den wahren Wolfianismus in nuce halte. Schade, daß er so vielen jungen Leuten den Kopf verdreht. Sein System ist aber gewiß, wie das Reinholdische, nichts als eine Leuchtkugel, die schnell zerplatzen wird. Mit Niethammers Recension konnte ich wohl zufrieden seyn, ob mich gleich das, was er zu meiner Ueberzeugung Belehrung sagt, im geringsten nicht überzeugt hat. – Nun noch eine kleine litterarische Anecdote. Eine gequetschte Wespe hieselbst füllt ihren Stachel mit Gift; und das ist denn ganz in der Natur einer Wespe. Der theure Herr Reinhardt kann das nicht verdauen, was Du gegen ihn gesagt hast; – und freylich, um es zu verdauen, müßte er einen Magen aus Stahlfedern haben. Er bereitet sich zur öffentlichen Fehde mit Dir, und glaubt in dem Nachlaß der Bürgerschen Papiere Pfeile zu finden, deren er sich gegen Dich bedienen kann. Er meint, beweisen zu können, daß Du Dir Deine Aufsätze von über Dante von Bürger hast corrigiren lassen. Ich weiß sehr wohl, wie die Sache zusam[4]menhängt; ich erzähle es aber ganz so, wie ein litterarischer Anecdotenjäger es mir hinterbracht hat, und es wird Dir vielleicht nicht unangenehm seyn, auf den Angriff bereitet zu seyn.
Du reist mit Deiner Caroline nach Dresden, und an das öde Göttingen wird nicht gedacht. Welche Freude würde es uns seyn, Euch einmal in unserm Hause bewirthen zu können. Nun müssen wir es bey bloßen freundschaftlichen Empfehlungen an Dich und Deine liebe Frau bewenden lassen. Letzterer wird es interessant seyn, zu hören, daß meine Frau in ihrer Schwangschaft sich recht brav verhält, und sich völlig wohl befindet, unterdeß wir übrigen stöhnen und stümpern. Das wird denn nun noch in unsrer einförmigen Lebensart eine angenehme Veränderung verursachen, und laß nur Deine liebe Frau dem guten Beyspiele folgen. Meine beiden Kinder machen mir viele Freude. Minchen erwirbt sich allenthalben Liebe. Bey Gustchen melden sich bisweilen schon die Flegeljahre an, weil ihm leider die zarte Mutterliebe gar zu sehr gefehlt hat. Er ist aber doch, trotz seiner Ungeschmeidigkeit, ein biederer und Herzensguter Junge. Ein junger Lommatsch, Sohn des Superintendenten, der mit unsrer Familie immer in genauer Verbindung gestanden hat, kömmt bald in die Nachbarschaft von Jen[a], wo er Prediger wird. Er wird Dich gewiß aufsuchen. Du wirst an ihm einen liebenswürdigen Mann finden, und ich habe manche angenehme Stunde mit ihm zugebracht. Lebe recht wohl, und vergiß meiner nicht ganz.
Der Deinige
K. A. M. Schlegel.
Göttingen
d. 1. Apr. 1797.
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