• Friedrich von Schlegel to August Wilhelm von Schlegel

  • Place of Dispatch: Leipzig · Place of Destination: Amsterdam · Date: [23. Oktober 1793]
Edition Status: Single collated printed full text with registry labelling
    Metadata Concerning Header
  • Sender: Friedrich von Schlegel
  • Recipient: August Wilhelm von Schlegel
  • Place of Dispatch: Leipzig
  • Place of Destination: Amsterdam
  • Date: [23. Oktober 1793]
  • Notations: Datum sowie Absende- und Empfangsort erschlossen.
    Printed Text
  • Bibliography: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 23. Dritte Abteilung: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Bis zur Begründung der romantischen Schule (15. September 1788 ‒ 15. Juli 1797). Mit Einleitung und Kommentar hg. v. Ernst Behler u.a. Paderborn u.a. 1987, S. 144‒146.
  • Incipit: „[1] Endlich bin ich einmal wieder bey ihr gewesen, nach einem so langen Zwischenraume. Ich traf sie wohl, und am Stickrahmen, [...]“
    Manuscript
  • Provider: Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
  • OAI Id: DE-1a-34186
  • Classification Number: Mscr.Dresd.e.90,XIX,Bd.24.a,Nr.36
  • Number of Pages: 6S. auf Doppelbl., hs.
  • Format: 19 x 11,5 cm
[1] Endlich bin ich einmal wieder bey ihr gewesen, nach einem so langen Zwischenraume. Ich traf sie wohl, und am Stickrahmen, bey dem sie den größten Theil des Tages zubringt. Sie schläft gut, und ist des Morgens wohl, des Abends leidet sie viel durch Hitze und andres Unbehagen. Sie muß sehr zufrieden seyn, daß sie ohngeachtet ihrer Seelen-Leiden und des Mangels an so guter Pflege wie sonst, doch nicht mehr leidet wie ehemals in ähnlichen Fällen. – Meyer ist einige Stunden bey ihr gewesen, sie war vergnügt ihn wiedergesehn zu haben, und schien weit zufriedner mit ihm, als sie vorher zu erwarten schien. Ich habe seine Bekantschaft nicht gemacht. – Während Sie einige Stunden bey dem Herrn Stadtschreiber und Frau Liebsten zubringen mußte (die lezte hat ihr unter andern ähnlichen Neuigkeiten auch erzählt; man sagte ja, Siberien wäre untergegangen) gab sie mir Ihre Briefe von Maynz geschrieben an Louise in Hamburg und an ihre Mutter zu lesen. Wenn ich dazu nehme, was sie mir iezt oder schon vorhin mündlich gestanden, so finde ich alles unbegreiflich, was ihr wiederfahren [2] ist. Freylich auch wieder sehr begreiflich bey der bekannten Unmenschlichkeit der Fürsten und ihrer Diener. – Wenn ich ihre Ansicht des Ganzen nur von wenigen Zügen, die einer ungerechten Eigenthümlichkeit, oder der ersten Hitze ihr Daseyn verdanken, reinige, so ist sie ganz die meinige. Einen Brief nach dem Verlust von Frankfurt, glühend von dem schönsten Unwillen, hat sie mir schenken müssen. – Ich kann ihr iezt fast verzeihen, daß sie des Unsinns fähig gewesen wäre, Dich in den Strudel und in Dein Unglück mit hinein zu ziehen. Diese Begeistrung für eine große öffentliche Sache macht trunken und thörigt für uns selbst und unsre kleinen Angelegenheiten, muß es machen, wenn sie ächt ist. –
Geschichte und Staatswissenschaft sind keine unbedeutende Aussicht in dem Entwurf meines künftigen Lebens. – Bald diese, bald jene Absicht führte mich bald zu diesen, bald zu jenen Geschichtsschreibern, und ohne absichtliches Forschen liegt viel Stoff in meinem Gedächtniße vorräthig, und mein Sinn für diese große Kunst ist nicht ganz ungeübt. Kurz nach Anfang dieses stürtzte mich [3] der Entschluß mich zu beschäftigen, in das Lesen der bekanntesten neuen politischen Werke, und ich fand nur einen werth, ihn zu erschöpfen, Rousseau. – Seit einigen Monaten nun ist es meine liebste Erhohlung geworden, dem mächtigen räthselhaften Hange der Zeit-Begebenheiten zu folgen; und davon fängt sich eine Denkart an in mir zu bilden, die es tollkühn wäre, nicht zu verschließen. – Ich denke aus der Richtung auf das Wesen der Sache, und das Ganze folgt unausbleiblich – Beyfall und Theilnahme. Die Sache hängt aber in meinem Kopfe mit tieferen Forschungen zusammen, als ein Brief zu entwickeln erlaubt. Willst Du wissen, wie die Art meiner Gedanken, der Sinn meiner Theilnahme ist, so ließ Kant im Septemb.[er] Berl.[inische] Mon[ats]-Schrift über Theorie und Praxis, Rettung der unterdrückten unschuldigen Wahrheit gegen die Eitelkeit kleiner Vernünftler, wie Rehberg z. B. Dann alle Oden von Klopstock. – Das Leben eines edeln Volkes in seinem Herzen tragen ist immer schön, aber in dieser verworfenen Zeit solche Oden wagen zu können, das verräth Etwas Erhabnes.
[4] Lieber Freund, ich sehe voraus, daß es mir in einiger Zeit ganz am Gelde fehlen kann. Kannst Du mir einige Ducaten schicken, so wäre es sehr schön. –
[5] Mensch, ich soll Dir beweisen, daß Schiller ein großer Mann ist? Beweisen sagst Du? – Krämer mögen von der Tugend Rechnungen machen; wir in Deutschland pflegen <unsre> Liebe und Achtung nur zu rechtfertigen. – Sey doch so gütig, Du, und beweise mir, daß Du ein Dichter bist, beweise mir, daß B. [Caroline Böhmer] das ist, wofür Deine Liebe sie gab, beweise mir, daß Du Sinn und Gefühl hast. – Melde mir doch auch wo Du mit diesen Beweisen anzufangen denkst, und wann Du endigen wirst. – B.ʼs Frage, was er denn Großes gethan habe, als etwa schöne Bücher schreiben? war weiblich. Es ist etwas Großes, den Menschen nicht nach seinen baaren Thaten, sondern nach seinem innern Leben wägen zu können; nur der Weise vermag es; oder ist der Dichter des Prometheus weniger groß wie Alexander, weil diesen das ganze Geschlecht, jenen nur Einige für das was er ist, anzuerkennen vermögen? Das Ewig-Gute in dem Leben eines Menschen rechtfertigt seine Ehre und Liebe; ich kann dieses doch zulezt nur wahrnehmen, den Verstand <und Erfahrung> nur brauchen, um das Urtheil des Herzens zu reinigen, und unabläßig nach Lösung aller Irrthümer zu streben. Denn nur das nenne ich vorurtheils[6]frey, sein Herz höher ehren als seine Begriffe.
Nun aber, das innre Leben eines Menschen, verräth es sich nicht in den kleinsten Aeußerungen, und kann ich durch Vernünfteln jemanden eine Wahrnehmung geben, die er nicht hat, vielleicht nicht haben will?
Nun meine Rechtfertigung – Sie liegt glaube ich deutlich genung in seinen Werken. Doch würde ich in einer Geschichte der Kunst schärfer bestimmen, und ihm vielleicht diesen Namen versagen, wegen des Rohen und Abgerißnen in allem, und dann der unzüchtigen Einbildung; und am Ende ist sein ganzes Wesen zerrißen und ohne Einklang. – Aber die große Kraft findʼ ich von Anfang bis noch iezt, da er zu sterben anfängt: zuerst in der unsinnigen Verzweiflung über früh verlorne Unschuld der Sitten und des Verstandes. Dann in dem kurzen Stolz über angeborne Kraft und errungne Bildung, und endlich in dem Bemühen sich selbst a priori zu construiren, da die Liebe erloschen ist.
Nächstens mehr.
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[1] Endlich bin ich einmal wieder bey ihr gewesen, nach einem so langen Zwischenraume. Ich traf sie wohl, und am Stickrahmen, bey dem sie den größten Theil des Tages zubringt. Sie schläft gut, und ist des Morgens wohl, des Abends leidet sie viel durch Hitze und andres Unbehagen. Sie muß sehr zufrieden seyn, daß sie ohngeachtet ihrer Seelen-Leiden und des Mangels an so guter Pflege wie sonst, doch nicht mehr leidet wie ehemals in ähnlichen Fällen. – Meyer ist einige Stunden bey ihr gewesen, sie war vergnügt ihn wiedergesehn zu haben, und schien weit zufriedner mit ihm, als sie vorher zu erwarten schien. Ich habe seine Bekantschaft nicht gemacht. – Während Sie einige Stunden bey dem Herrn Stadtschreiber und Frau Liebsten zubringen mußte (die lezte hat ihr unter andern ähnlichen Neuigkeiten auch erzählt; man sagte ja, Siberien wäre untergegangen) gab sie mir Ihre Briefe von Maynz geschrieben an Louise in Hamburg und an ihre Mutter zu lesen. Wenn ich dazu nehme, was sie mir iezt oder schon vorhin mündlich gestanden, so finde ich alles unbegreiflich, was ihr wiederfahren [2] ist. Freylich auch wieder sehr begreiflich bey der bekannten Unmenschlichkeit der Fürsten und ihrer Diener. – Wenn ich ihre Ansicht des Ganzen nur von wenigen Zügen, die einer ungerechten Eigenthümlichkeit, oder der ersten Hitze ihr Daseyn verdanken, reinige, so ist sie ganz die meinige. Einen Brief nach dem Verlust von Frankfurt, glühend von dem schönsten Unwillen, hat sie mir schenken müssen. – Ich kann ihr iezt fast verzeihen, daß sie des Unsinns fähig gewesen wäre, Dich in den Strudel und in Dein Unglück mit hinein zu ziehen. Diese Begeistrung für eine große öffentliche Sache macht trunken und thörigt für uns selbst und unsre kleinen Angelegenheiten, muß es machen, wenn sie ächt ist. –
Geschichte und Staatswissenschaft sind keine unbedeutende Aussicht in dem Entwurf meines künftigen Lebens. – Bald diese, bald jene Absicht führte mich bald zu diesen, bald zu jenen Geschichtsschreibern, und ohne absichtliches Forschen liegt viel Stoff in meinem Gedächtniße vorräthig, und mein Sinn für diese große Kunst ist nicht ganz ungeübt. Kurz nach Anfang dieses stürtzte mich [3] der Entschluß mich zu beschäftigen, in das Lesen der bekanntesten neuen politischen Werke, und ich fand nur einen werth, ihn zu erschöpfen, Rousseau. – Seit einigen Monaten nun ist es meine liebste Erhohlung geworden, dem mächtigen räthselhaften Hange der Zeit-Begebenheiten zu folgen; und davon fängt sich eine Denkart an in mir zu bilden, die es tollkühn wäre, nicht zu verschließen. – Ich denke aus der Richtung auf das Wesen der Sache, und das Ganze folgt unausbleiblich – Beyfall und Theilnahme. Die Sache hängt aber in meinem Kopfe mit tieferen Forschungen zusammen, als ein Brief zu entwickeln erlaubt. Willst Du wissen, wie die Art meiner Gedanken, der Sinn meiner Theilnahme ist, so ließ Kant im Septemb.[er] Berl.[inische] Mon[ats]-Schrift über Theorie und Praxis, Rettung der unterdrückten unschuldigen Wahrheit gegen die Eitelkeit kleiner Vernünftler, wie Rehberg z. B. Dann alle Oden von Klopstock. – Das Leben eines edeln Volkes in seinem Herzen tragen ist immer schön, aber in dieser verworfenen Zeit solche Oden wagen zu können, das verräth Etwas Erhabnes.
[4] Lieber Freund, ich sehe voraus, daß es mir in einiger Zeit ganz am Gelde fehlen kann. Kannst Du mir einige Ducaten schicken, so wäre es sehr schön. –
[5] Mensch, ich soll Dir beweisen, daß Schiller ein großer Mann ist? Beweisen sagst Du? – Krämer mögen von der Tugend Rechnungen machen; wir in Deutschland pflegen <unsre> Liebe und Achtung nur zu rechtfertigen. – Sey doch so gütig, Du, und beweise mir, daß Du ein Dichter bist, beweise mir, daß B. [Caroline Böhmer] das ist, wofür Deine Liebe sie gab, beweise mir, daß Du Sinn und Gefühl hast. – Melde mir doch auch wo Du mit diesen Beweisen anzufangen denkst, und wann Du endigen wirst. – B.ʼs Frage, was er denn Großes gethan habe, als etwa schöne Bücher schreiben? war weiblich. Es ist etwas Großes, den Menschen nicht nach seinen baaren Thaten, sondern nach seinem innern Leben wägen zu können; nur der Weise vermag es; oder ist der Dichter des Prometheus weniger groß wie Alexander, weil diesen das ganze Geschlecht, jenen nur Einige für das was er ist, anzuerkennen vermögen? Das Ewig-Gute in dem Leben eines Menschen rechtfertigt seine Ehre und Liebe; ich kann dieses doch zulezt nur wahrnehmen, den Verstand <und Erfahrung> nur brauchen, um das Urtheil des Herzens zu reinigen, und unabläßig nach Lösung aller Irrthümer zu streben. Denn nur das nenne ich vorurtheils[6]frey, sein Herz höher ehren als seine Begriffe.
Nun aber, das innre Leben eines Menschen, verräth es sich nicht in den kleinsten Aeußerungen, und kann ich durch Vernünfteln jemanden eine Wahrnehmung geben, die er nicht hat, vielleicht nicht haben will?
Nun meine Rechtfertigung – Sie liegt glaube ich deutlich genung in seinen Werken. Doch würde ich in einer Geschichte der Kunst schärfer bestimmen, und ihm vielleicht diesen Namen versagen, wegen des Rohen und Abgerißnen in allem, und dann der unzüchtigen Einbildung; und am Ende ist sein ganzes Wesen zerrißen und ohne Einklang. – Aber die große Kraft findʼ ich von Anfang bis noch iezt, da er zu sterben anfängt: zuerst in der unsinnigen Verzweiflung über früh verlorne Unschuld der Sitten und des Verstandes. Dann in dem kurzen Stolz über angeborne Kraft und errungne Bildung, und endlich in dem Bemühen sich selbst a priori zu construiren, da die Liebe erloschen ist.
Nächstens mehr.
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