Deinen Brief aus Florenz vom 24sten März1), liebe Nichte, empfing ich in Berlin unter einem Gedränge von Zerstreuungen und Beschäftigungen, wobei es mir unmöglich fiel, ausführlich zu schreiben. Auch wußte ich ja nicht, wohin ich meine Antwort richten sollte. Jetzt muß ich dich in Wien vermuthen. Die Nachricht, die du mir ertheilst, hat mich nicht im mindesten befremdet: seit deiner ersten Reise nach Wien habe ich es vorausgesehen, es oft deiner Mutter vorhergesagt, die mir niemals glauben wollte. Mein lebhaftester Unwille ist allerdings erregt worden, aber nicht gegen dich: er richtet sich nach einer ganz andern Seite. Sei versichert, arme Nichte, daß ich vielmehr mit dir das innigste Mitleiden empfinde. Ich begreife gar wohl, wie ein krankes Gemüth nach eingebildeten Tröstungen hascht, sich aber dadurch nur neue Schmerzen schafft, und sich in tiefere Labyrinthe verstrickt. Nur, wenn du diese milde Ansicht bei andern nicht gleichgesinnten wünschest, so rathe ich dir, laß dich weder auf theologische Polemik noch auf Casuistik ein. Von der ersten versteht ihr guten Kinder nichts, und in der zweiten erkennt man den Einfluß jener verderblichen Lehrer, welche die Kunst ersonnen haben, was dem natürlichen sittlichen Gefühle aller gutgearteten Menschen widerspricht, zur Heiligkeit zu stempeln.
[2] Das hätte ich wohl erwarten dürfen, daß du mir dein Vorhaben zuvor gemeldet, und dir meinen Rath erbeten hättest. Ich hätte dann eine Zusammenkunft und vertraute Unterredung vorgeschlagen, und dir die Mittel dazu erleichtert. Übrigens beziehe ich mich ganz auf den Brief unsers großherzigen, gerechten, biedern Monarchen an seine natürliche Schwester. Lies diesen Brief doch ja, wenn du ihn noch nicht gelesen hast. Äußerliche Anfechtungen hast du in Deutschland nicht zu besorgen. In Berlin, wenn du zur Ausübung deiner Kunst dahin gehen solltest, wird man gar nicht darnach fragen, so strenge man auch absichtliche und ein Aufsehen zu erregen bestimmte Übertritte beurtheilt. Mit den Malern ist man es schon gewohnt, und betrachtet es als eine künstlerische Fantasie. Die Bildhauer und Architekten werden ohnehin nicht katholisch.
Ich begehre Nachricht von deinen Kindern: ich habe wohl einen Anspruch darauf, da deine Mutter so vielfältig ihr künftiges Wohl mit mir berathen hat. Ich bin überzeugt, du erkennst deine Mutterpflichten als den wesentlichen Beruf deines Lebens an und widmest dich ganz ihrer Erziehung.
Deine Base in Harburg, die älteste Tochter meines unvergeßlichen Bruders Moritz, die Frau des Hauptmanns Spall, ist ebenfalls in einer bedrängten Lage. Sie hat zwei Kinder, und vermuthlich eine noch beschränktere Einnahme, als du ohne den Erwerb von deiner Kunst haben würdest. Indessen weiß sie durch Arbeit[3]samkeit und strenge Sparsamkeit dennoch auszureichen.
Gern hätte ich Vaters Stelle bei dir vertreten, liebe Nichte, aber du hast dich mir entzogen, dich ganz von mir gewendet. Wenn du wieder umkehren, dich wieder an das heilige Andenken deiner Eltern, deines würdigen Großvaters und so vieler andern Vorfahren anschließen willst, so werde ich dich und deine Kinder mit offnen Armen aufnehmen.
A. W. von Schlegel
1) Im Original: Mai.
[4]