Liebster Bruder, hier schicke ich Dir einen Brief von Henrietten den sie den Umweg hat machen lassen, aus Mißtrauen in die obgleich sehr richtige Addresse. Sie hat meiner Frau eine von ihr selbst gemachte Composition Deines Liedes Laue Lüfte geschickt. Hat sie sie Dir etwa nicht mitgeschickt, so können wir sie Dir also abschreiben. – Sie schreibt von einem Briefe von Dir an meine Frau. Wir haben aber bis jetzt keine Zeile erhalten, so daß ich schon unruhig darüber war. Meine Briefe vom 15ten Mai an Dich, und vom 1ten Juni an Frau von Stael werden hoffentlich angekommen sein.
Neues weiß ich nicht. Ich bin sehr fleißig, und werde bald meine 200 Verse aus dem Ramayana fertig haben; doch über 10 Distichen des Tags kann ich es noch nicht bringen. Ich wäre sehr neugierig zu wissen, wie es Dir in Sprache und Metrum gefallen möchte. – Sei doch so gütig und schick mir eine so vollständige Liste als möglich aller Schriften von St. Martin, auch Notiz ob man sie etwa in Genf, Straßburg, Paris oder wo sonst kaufen kann. Hardenberg hat mich deshalb gebeten. – Eine neue Bekanntschaft habe ich in den Lesestunden gemacht, da ich zur Erhohlung [2] die Neuern durchsah die sich zuerst mit orientalischer Philosophie beschäftigt – an Reuchlin und Mirandola. Der erste ist ganz ein so grosser Philosoph als ich nach einigen Proben vermuthete; ich würde ihn gleich für das Mittelalter bearbeiten, aber leider habʼ ich seine letzte und also unentbehrliche Schrift noch nicht auftreiben können. Er ist von einer göttlichen Klarheit und Sicherheit die in wenigen Worten den eigentlichen Hauptpunkt trift. Mirandola ist noch Ideenreicher, aber verworren und nicht zur Klarheit gekommen. Seine 900 theses haben eine Ähnlichkeit mit meinen und Novalis Fragmenten, so weit die Verschiedenheit der Zeit es erlaubt, die mir manchmal recht sonderbar aufgefallen ist. Vieles ist jetzt wohl für jeden unverständlich. – In beiden habe ich Sätze meiner Philosophie wörtlich gefunden, die ich eigentlich doch sonst nirgends ausdrücklich gelesen hatte; als daß die Logik nicht auf göttliche Dinge also nicht auf die Philosophie anwendbar sei, bei Reuchlin und bei Mirandola; daß die Mathematik keine Wissenschaft, außer daß sie es durch die symbolische Bedeutung werden könne.
Die Niobe von Schütz habe ich noch nicht gesehn. Lebe wohl und schreibe bald. Herzliche Grüße von meiner Frau.
Friedrich