1837.
Theuerster Oheim!
Es ist ein ziemlich langer Zeitraum verflossen, seit ich Ihnen zuletzt schrieb und es war auch schon seit mehreren Wochen meine Absicht, Ihnen einmal wieder Nachricht von mir und den Meinigen zu geben, doch verschob ich es, weil ich hoffte, Ihnen von Harburg Erfreulicheres mittheilen zu können. Weil sich von daher aber die Nachrichten leider verschlimmern, so säume ich nun nicht länger. Der Gesundheitszustand meiner guten Mutter hat sich, Gott sei Dank! in der letzten Zeit nicht wesentlich verschlimmert, obgleich sie an Beschwerden mancher Art und großer Schwäche leidet, wie das auch bei ihren hohen Jahren und ihrer langen Kränklichkeit nicht anders zu erwarten ist. Sie selbst aber und meine Schwester sind in großer Sorge wegen Pauline, die [2] seit 8 Wochen krank ist und mit jedem Tage sichtlich schwächer wird und mehr hinwelkt. Nach den mir von ihrem Zustande gemachten Beschreibungen muß ich fast fürchten, daß es etwas auszehrendes ist; der Arzt hat eine sehr stärkende Diät anempfohlen, tägliche Bewegung in freier Luft, was sie jedoch unendlich angreift, auch hat sie alle Lehrstunden aufgeben müssen, ausgenommen den Religionsunterricht, weil sie zu Ostern confirmirt werden soll. Es wäre wirklich recht hart für meine arme Schwester, wenn sie dieses ihr liebstes Kind verlieren sollte, das ihr durch Folgsamkeit, Gutherzigkeit und fast zu großen Fleiß nur Freude und Trost gewährt hat und ich wüßte gar nicht, wie sie diesen neuen Schlag des Schicksals ertragen würde. Doch vielleicht hilft der Himmel noch, wir wollen nicht gleich allen Muth sinken lassen.
Recht gefreut habe ich mich, neulich ein kleines Briefchen von Mamsell Marie zu erhalten und besonders über die Nachricht, daß es Ihnen, lieber Onkel, wohl geht und Sie von einer gehabten Unpäßlichkeit völlig wieder hergestellt sind. Von ganzem Herzen wünsche ich, daß Sie das neu begonnene [3] Jahr kräftig und rüstig verleben mögen wie bisher!
Hermann muß jetzt tüchtig lernen, besonders Lateinisch, so daß er an manchen Tagen kaum eine halbe Stunde Zeit hat, um sich Bewegung im Freien zu machen. Ich habe mich jedoch überzeugt, daß ihm grade das Lateinische recht schwer wird, daher fürchte ich, wird er es nie weit darin bringen. Den Gedanken, ihn studiren zu lassen, muß ich daher wohl aufgeben, wenn ich nun nur erst wüßte, zu welchem andern Fache er sich am besten eignete. Körperlich ist es ihm bisher Gottlob! gut gegangen, er ist frisch, munter und lebhaft, auch wächst er etwas, doch verhältnißmäßig nur langsam, steht aber an Körperkraft den größeren Knaben seines Alters nicht nach. An seinen lieben Großonkel in Bonn und den höchst angenehmen Aufenthalt in dessen Hause erinnert er sich noch oft mit großer Freude.
Auf meiner Rückreise von Harburg habe ich nicht, wie ich beabsichtigte, meinen Bruder in Verden besucht, weil mir dieser Umweg in Ansehung der Kosten einen zu bedeutenden Unterschied gemacht hätte. Nach seinem letzten Briefe ging es ihm wohl und er scheint in seinen dortigen Verhältnissen ziemlich zufrieden zu sein.
[4] Die Tante in Hannover ist, wie ich höre, im letzten Sommer zum Besuch in Göttingen gewesen und hat geäußert, sie würde nächsten Sommer ganz dorthin ziehen. Ob dieses nun wirklich ihr Ernst, oder nur eine so hingeworfene Äußerung gewesen ist, weiß ich nicht. Sie soll recht alt und – häßlich geworden sein.
Meine Mutter und Schwester, so wie auch Hermann haben mir die herzlichsten Grüße an Sie aufgetragen. Mamsell Marie bitte ich freundlich zu grüßen, die Beantwortung ihres Briefes behalte ich mir vor.
Leben Sie recht wohl, theurer Onkel, und erhalten Sie mir wie bisher Ihr mir so schätzenswerthes Wohlwollen.
Ihre
Sie aufrichtig liebende Nichte
Amalie Wolper.