1840.
Geliebtester Oheim!
Eine innige Freude bereitete mir Ihr liebevoller und herzlicher Brief, den ich zu wiederholten Malen gelesen habe und wobei es wohl nicht der Versicherung bedarf, wie dankbar ich es erkenne, daß Sie sich von Ihren dringenden und wichtigen Geschäften abmüssigen, um mir so ausführlich zu schreiben. Es gewährt mir eine hohe Befriedigung, daß Sie mit dem, was ich in der Angelegenheit meines unglücklichen Bruders gethan habe, zufrieden sind. Meinem redlichen Willen stehen freilich nur schwache Mittel zu Gebote, doch beruhigt es mein bekümmertes Gemüth ungemein, wenn ich thätig bin und thue, was ich vermag. Der Ausgang steht nicht in unsrer Macht, den müssen wir Gott anheim stellen, der Alles wohl machen wird.
[2] Herr Superintendent Jüngst empfiehlt sich Ihnen angelegentlichst und versichert, daß es ihm zur größten Freude gereichen würde, wenn er uns in dieser traurigen Angelegenheit nützlich sein könne. Ich glaube gewiß, daß es ihn erfreuen und er sich sehr geehrt fühlen würde, wenn Sie ihm später einmal eine Ihrer Schriften zusenden.
Ihrer Ansicht, wie die Eingaben an die Behörden abgefaßt werden müssen, stimmen H. Sup. und ich vollkommen bei. Er meint, ob es nicht vielleicht eben so passend sei, wenn meine Mutter, gleichsam als Erwiderung auf Kohlrausch Brief an ihn, sich an diesen zuvörderst schriftlich wende und sodann erst ein Gesuch beim Ober-Schul-Collegium einreiche, in dem von Ihnen angegebenen Sinne? Der Dr. Matthaei, mit dem wir fortwährend in Correspondenz stehen, damit wir in Übereinstimmung handeln, faßt auch die Sache in gleicher Weise auf. Die Stelle in seinem letzten Briefe, die sich darauf bezieht, lautet wörtlich so: „Einen Antrag an das Ministerium halte ich nicht für rathsam. Meiner Ansicht nach muß das Ober-Schul-Collegium, so lange die Ärzte den Dr. Schlegel nicht für unheilbar erklären, ihm seine ganze Gage lassen, nach Abzug dessen, was [3] er dem geben muß, der seine Geschäfte besorgt. Diese Ansicht werde ich stets vertreten. Wird ihr nicht nachgegangen, so muß ich mich beruhigen, sobald die höchste Behörde darüber entschieden hat, werde diese Entscheidung aber dann stets zu der Zahl der andern gewissenlosen Gewaltstreiche zählen, die schon vorgekommen sind und noch vorkommen. Es ist bislang wenigstens nie Sitte gewesen, wegen Krankheit zu pensioniren. Wenn ich mir einen Abzug für die Arbeitshülfe gefallen lasse, so thue ich schon mehr, als früher in ähnlichen Fällen geschah.“
Diese und noch andre Äußerungen scheinen mir zu beweisen, daß der Dr. M. ein verständiger und rechtlicher Mann ist, der sich der Angelegenheit meines Bruders mit Eifer annimmt. Gern nehme ich daher mein vorschnelles Urtheil über ihn zurück, in der Ferne scheint so manches anders und ich ließ mich durch meinen Unmuth dazu verleiten. Ich habe ihm gestern zuerst selbst geschrieben, hauptsächlich um ihm zu danken. Auch Mutter hat dieses vor ungefähr 14 Tagen gethan, denn er hat auch für August’s Reise nach Hildesheim mit vieler Aufmerksamkeit und Umsicht gesorgt. Es erklärt sich nun auch, weßhalb Mutter gar keine Benachrichtigung aus Verden bekommen hat. Der Dr. Matthaei hat nämlich zugleich mit dem [4] Briefe an Sie auch ein ähnliches Schreiben an Breyger zu Harburg gesandt mit der Bitte, die Sache meiner Mutter so schonend, wie möglich, zu eröffnen. Dieser hat aber geantwortet, er begreife den Zweck seines Briefes nicht, die Mutter wisse den Zustand ihres Sohnes nicht und dürfe ihn auch nicht wissen. – Was dieses von B. gesollt hat, sehe ich wahrlich nicht ein, da Mutter die Sache nicht verschwiegen bleiben konnte und sie dann doch gewußt hätte, an wen sie sich mit Vertrauen wenden könne. Ihres sehr wohlwollenden Briefes erwähnt er mit vieler Anerkennung.
An den Medicinal-Rath Dr. Bergmann zu Hildesheim habe ich am 29sten Jan. geschrieben und schon am 4ten Febr. also umgehend Antwort erhalten, was ich recht artig finde. Er schreibt, mein Bruder sei in einem auch körperlich leidenden Zustande dort angelangt, so daß er sofort das Bett hüten müsse; Wunden von Verletzungen während seiner Unruhe vor seiner Aufnahme und innere Leiden, auch eine Rosenentzündung mit Geschwulst am Beine hätten dieß leider! nöthig gemacht. Sein Geist sei zwar sehr in Verwirrung, doch heiterer Art und schon jetzt zeige sich einige Minderung. Doch lasse sich jetzt noch kein Urtheil fällen. Sobald es gelinge, seine körperlichen Leiden hinlänglich zu [5] heben, dann würde es weniger schwierig sein, auch seinen Verstand wieder zu erhellen. Er habe einen eignen Wärter und jede Unterstützung, Freundlichkeit, Liebe und Pflege, die dem Unglück gebühre. Schließlich wünscht er, mir dereinst bessere Nachrichten zu ertheilen. – Wir sehen daraus, theuerster Oheim, daß der arme August gut aufgehoben, aber körperlich lange nicht so gesund und kräftig ist, als wir glaubten. Leider befestigt sich die in meinem Innern auch die Überzeugung immer mehr, daß vielleicht schon seit seiner Kindheit eine Anlage zu der jetzigen Geistesverwirrung bei ihm vorhanden war. Viele seiner Eigenheiten und Sonderbarkeiten, die ich mir in’s Gedächtniß zurück rufe, woraus ich damals freilich kein Arg hatte, bestärken mich darin. Dieß läßt uns auch ein recht mildes Urtheil über alles fällen, was in seinem Benehmen und in seiner Handlungsweise wohl hätte anders sein können. Er selbst schadete sich am meisten dadurch und zog sich gewiß manche Kränkung und Zurücksetzung selbst zu. Doch Sie sprechen mir aus der Seele, geliebter Oheim, jetzt müssen wir nur bedenken, daß er unglücklich ist und der Hülfe bedarf. Gern will ich auch Alles für ihn thun, was in meinen Kräften steht, denn sein jetziger Zustand jammert mich in der Seele.
[6] Meiner Mutter theile ich natürlich nur das mit, was ihren Muth aufrichten und ihre Hoffnung beleben kann. Können wir ihr später einmal eine traurige Gewißheit nicht länger verbergen, so wollen wir ihr wenigstens jetzt nicht noch mehr der Sorge und Bekümmerniß machen. Aug. ist entweder in Botfeld oder Harburg geboren, ich habe an Mutter deßhalb geschrieben. Diese läßt Sie auch herzlich grüßen, sie habe Ihnen Aug: Abreise melden wollen, doch da sie erfahren, daß dieses bereits durch mich geschehen sei, so habe sie Sie nicht durch Wiederholungen belästigen wollen.
Der Dr. Matthaei schreibt auch, daß es wahrscheinlich nicht nöthig sei, daß ich Bettwäsche nach Hildesheim schicke, weil diese gewöhnlich von der Anstalt geliefert werde. Er habe sich danach erkundigt und werde mir nächstens darauf Bescheid ertheilen. Es versteht sich daher von selbst, theurer Oheim, daß ich Ihr freundliches Anerbieten, mir abermals ein Geschenk zu schicken, nicht annehmen kann, so dankbar ich auch Ihre große Güte erkenne, denn selbst in dem Fall, daß ich Bettwäsche anschaffe, bleibt noch immer etwas für mich übrig.
Einen ärztlich bestimmten Bericht von dem Gesundheitszustande meiner Schwester, kann ich Ihnen zwar für den Augenblick nicht geben, doch, wenn Sie es wün[7]schen, ihren Arzt darum ersuchen. Gegen Mutter äußert er sich natürlich immer mit einiger Zurückhaltung und Schonung, doch hat er vor längerer Zeit gesagt, meine Schwester sei in dem für Frauen gefährlichen Alter, wo sich die Natur ändere und mannichfache Beschwerden einzutreten pflegten, denen manche sogar erliegen müßten. Die Schwäche in den Beinen rühre vom Rückenmark her. Diese ist so groß, daß sie oft ohne äußere Veranlassung in die Knie sinkt und schon seit Jahren nicht mehr allein über die Straße gehen kann. Ihr Adolph, als der stärkere der beiden Kinder, ist ihr steter Führer. Dazu gesellt sich eine tiefe Niedergeschlagenheit und Ängstlichkeit des Gemüthes. Sie beunruhigt sich fortwährend, selbst wenn kein besonderer Grund dazu vorhanden ist. Medicin wird dabei wohl wenig helfen und nur Pflege und Ruhe von wohlthäger Wirkung sein. Daher ist es mir eine so große Freude, daß ich durch Ihre Güte, lieber Oheim, in den Stand gesetzt bin, ihr einige Erleichterung zu verschaffen. In der letzten Zeit muß sich ihr Befinden noch bedeutend verschlimmert haben, sie klagt über beständige Schmerzen und täglich, mehrere Stunden hindurch, über eine solche Kälte, daß sie es zuweilen schon für die [8] Annäherung des Todes halte. Sie empfiehlt mir in diesem Fall ihre Kinder, deren ich mich auch treulich annehmen werde.
Emilie Büchting ist nach dem Tode ihrer Großmutter, wiewohl sehr ungern, wieder zu ihrem Vater gegangen, so schrieb mir damals August. Der Vater lebt aber nicht mehr in Hannover, wo, ist mir wieder entfallen. An das arme Mädchen kann ich auch nicht ohne aufrichtiges Mitleid denken, denn sie ist durch die unseeligen Mißverhältnisse im elterlichen Hause und die Verkrüppelung ihres Körpers hienieden nur auf Dulden und Entsagung angewiesen.
So gern ich meinem langen Briefe auch noch Mehreres hinzufügte, so muß ich doch schließen, um den Abgang der Post nicht zu versäumen.
Leben Sie denn wohl, theurer Oheim, und seien Sie versichert, daß ich Ihrer stets mit wahrer Verehrung und aufrichtiger Anhänglichkeit gedenke.
Ihre
Sie wahrhaft liebende Nichte
Amalie Wolper.
Entschuldigen Sie mit der Eile mein zuletzt so schlechtes Schreiben.
[1] beantw. d. 6 12ten Febr.
VII.