Hochgeehrtester Herr!
Es ist mir ungemein schmeichelhaft und erfreulich, daß Ew. Wohlgeb. auf meine flüchtigen Mittheilungen einigen Werth legen wollen. Ich kann Ihnen dieß nicht besser beweisen, als indem ich fortfahre auf Ihre Fragen nach bestem Vermögen zu antworten.
Zuerst vom Altdeutschen. Nach allem was seit Goldast in diesem Fache geschehen, also seit zweyhundert Jahren, durch Leibniz, Eccard, Pez, Schilter, Scherz, und in neueren Zeiten durch Eschenburg, Bodmer, Lessing und andere, ist noch gewaltig darin aufzuräumen, und man kann keinesweges sagen, daß der Zugang zu diesem Studium so leicht gemacht wäre, als geschehen könnte, wenn eine sorgfältigere Auslegungskunst und Kritik daran gewandt würde.
Eine Grammatik des Altdeutschen aus dem 9ten Jahrhundert oder des Fränkischen hat ein Engländer geliefert, Hickes in dem Thesaurus [2] linguarum septentrionalium. Aber diese kann uns bey den Schriften des 13ten Jahrhunderts wenig helfen. Hr. Docen hat eine Sprachlehre des Deutschen aus diesem Zeitraum versprochen.
Wörterbücher giebt es genug, aber sie sind alle voller Mängel: eins von Schilter und Scherz für die carolingische Periode, in Schilteri Thesauro Antiquitatum Germanicarum, das Glossar von Pez am Schlusse seiner Scriptores rerum Austriacarum, Wachters Glossarium Germanicum, in etymologischer Hinsicht vortrefflich; besonders aber Scherzii Glossarium, vermehrt und herausgegeben von Oberlin ist für unsern Zweck das wichtigste: es erstreckt sich auf die schwäbische und spätere Zeit.
Alle diese Werke sind jedoch weitläuftig und kostbar, es ist dem Erzieher keinesweges zuzumuthen, sich darein zu verlieren, auch werden sie für die Nibelungen ganz entbehrlich seyn, sobald eine vollständige Wort- und Sacherklärende Ausgabe davon vorhanden ist. Dieses Gedicht soll an das heitre Licht des Lebens herausgeführt werden, man [3] muß es den Schülern und Lehrern so leicht machen, daß sie die besiegten Schwierigkeiten kaum noch spüren.
Diesen Zweck habe ich mir schon viel Zeit und Geld kosten lassen, aber zu dessen Erreichung noch wenig geleistet. Ein Stück aus meiner historischen Untersuchung über die Nibelungen wird in der Zeitschrift: Vaterländisches Museum herausgegeben von Fr. Schlegel in Wien, mit Anfang des nächsten Jahres erscheinen.
Mit dem Vorschlage, dieses einheimische Heldengedicht in den Schulen zu lesen, ist mir jetzt schon ein Hr. Zimmermann (in dem Taschenbuch Urania 1812 S. 24) zuvorgekommen. Hr. Niederer, der von meinen Bemühungen gehört, äußert sich ebenfalls bereitwillig zu einem Versuch. Die Sache wird von so vielen Seiten angeregt, daß sie hoffentlich bald allgemeinen Eingang finden wird.
Mir ist die Erneuerung und volksmäßige Belebung dieser nordischen Ilias eine wahre Angelegenheit. Es wäre mein höchster Ehrgeiz nach besten Kräften mit andern gleichgesinnten Zeitgenossen eben das daran [4] zu leisten, was Solon und Pisistratus für den Homer thaten. Das Beyspiel ist aufmunternd, denn als Solon die homerischen Rhapsodieen nach ihrer Ordnung öffentlich abzusingen befahl, waren sie im europäischen Griechenland schon ganz verschollen und veraltet. Er hatte ohne Zweifel einen politischen Zweck dabey. Die Ionier waren schon von den Lydischen und Persischen Königen unterjocht, Griechenland war mit dem gleichen Loose bedroht. Die Ilias sollte die europäischen Griechen lehren, daß sie, vereinigt, stark genug wären, einen mächtigen asiatischen Monarchen in seinem Reiche anzugreifen, daß aber innere Zwietracht diesem die Oberhand über sie gebe.
In Ermangelung einer für den Unterricht tauglichen Ausgabe der Nibelungen muß man die beyden Hagenschen zusammen nehmen. Die frühere ist willkührlich modernisirt, aber sie enthält in dem beygefügten Glossar die nothwendigsten Worterklärungen, und in der Einleitung manches für den Lehrer nutzbare. Die zweyte ist ziemlich genau in kritischer Hinsicht, wiewohl keinesweges vollständig, und der Herausgeber hat die [5] alte Schreibung beybehalten, was die Lesung unnöthig erschwert. Diese Schwierigkeit kann nur durch belebtes Vorlesen gehoben werden, die alte Sprache wird bey den Schülern weit leichter durch das Ohr als durch das Auge Eingang finden. Dieß würde Ihnen klar werden, wenn ich das Vergnügen haben könnte, Ihnen nur eine einzige Rhapsodie auf meine Weise vorzutragen. Die deutsche Sprache hat sich im Lauf der Jahrhunderte weit weniger verändert als man gemeinhin glaubt, und die der Nibelungen steht der heutigen vielleicht näher als die homerische Mundart der attischen Prosa zur Zeit des Perikles.
Mit der Aussprache haben wir uns keine Gewalt anzuthun. Die, welche die Handschriften uns darstellen, ist eigentlich weder alt noch neu, sondern provinziell: es ist eben die ehemals allgemeine Oberdeutsche, welche sich in der Schweiz am unverändertsten erhalten hat. Ein Bauer des Oberlandes wird das Gedicht in der alten Schreibung ganz natürlich weglesen. Indessen, wiewohl die Oberdeutsche [6] Mundart vorwaltet, kann man eben so wohl wie vom Homer sagen, alle Mundarten seyen darin vermischt, und jede Provinz wird zu leichterem Verständniß etwas aus der noch üblichen Volkssprache herbeyschaffen können.
Für die historische Erklärung ist außer Johannes Müllers kurzer und hier und da mangelhafter Deutung noch wenig geschehen. Die weitere Entwickelung war mein Hauptzweck bey der noch nicht vollendeten Schrift.
Es ist keine Vermuthung, daß Attila in dem Gedichte vorkommt, sondern die ausgemachteste Gewißheit. Etzel oder Ethel war Attilaʼs wahrer Name, und die letzte Form bloß eine römische Umbildung. Dieß bezeugen sowohl die byzantinischen als die ältesten ungarischen Geschichtschreiber. Man hat es damit in Verbindung gesetzt, daß der Don und die Wolga in tartarischer Sprache ebenfalls diesen Namen sichern. An diesen Flüssen war der ursprüngliche Sitz des Hunnenreichs: der Eroberer wurde vielleicht nach ihnen oder sie nach ihm benannt. Noch im [7] vierzehnten Jahrhundert nannten die in Ungarn wohnenden Deutschen die Hauptstadt Buda die Etzelburg, wie der Anonymus Belae und Thwrócz dieß vielfältig bezeugen.
Die zweyte Hauptperson des Gedichtes, die deutsche Gemahlin Attilaʼs Chrimhilde, wird gleichfalls von den Ungarischen Überlieferungen anerkannt.
Historisch ist ferner das älteste Burgundische Reich am Mittel-Rhein und dessen Sitz Worms. Gegen Ende des 5ten Jahrhunderts wurden die Burgunder an den Jura versetzt. In ihrem lateinischen Gesetzbuch, welches in eben diesen Gegenden wo ich schreibe abgefaßt worden, werden zwey von den Helden unsers Gedichtes, Günther und Giselher, als burgundische Fürsten genannt. Der Name des dritten ist verändert.
Historisch ist auch die Katastrophe, nämlich die Niederlage der Burgunder im hunnischen Hoflager. Zwar geben sie die dürftigen Chronisten der damaligen Zeit unter dem Jahre 435 oder 436 nur sehr kurz an: ʻDen Burgundischen König Gundicarius (Günther) haben die Hunnen samt seinem Volk und Geschlechte [8] vertilgt.ʼ Mascov hat dieß misverstanden und es auf einen Feldzug Attilas an den Rhein gedeutet, wovon die Geschichte um diese Zeit schweigt. Unser Gedicht giebt erst den wahren Aufschluß darüber.
Dieterich von Bern ist der große Theodorich, Amelungen-Land ist das Reich der Ostgothen, von dem herrschenden Geschlechte der Amaler so benannt. Allein es ist ein Anachronismus, den Theodorich zum Zeitgenossen Attilaʼs zu machen, und hier ist eine Verwechselung oder vielmehr Verschmelzung mehrerer Personen vorgegangen, denn wir sehen in der Geschichte daß Ardarich oder Hardrich, König der Gepiden, eines Gothischen Volkes, an dem Hofe des Attila gerade dieselbe Rolle spielte, die dem Dieterich in den Nibelungen zugeschrieben wird. Die ungarischen Sagen stimmen mit den unsrigen überein, und nennen diesen Helden Detréh halhatátla, Dietrich den unsterblichen oder vielmehr untödtbaren.
Was Siegfrieden und die Brunhilde betrifft, scheint mehr fabelhaft zu seyn, [9] und hierüber muß man die nordischen Sagen vergleichen, namentlich die Wolsunga-Saga, welche nichts anders ist als unser Gedicht, in die Sinnesart der nordischen Skalden übertragen.
Unser Text ist aus dem Anfange des 13ten Jahrhunderts, wie sich auf das strengste beweisen läßt. Der Dichter lebte in Österreich, vermuthlich am Hofe eines babenbergischen Fürsten. Daß aber das Gedicht schon früher in einer andern Gestalt vorhanden war, davon finden sich die mannichfaltigsten Spuren, und die Sache spricht für sich. Denn es offenbart sich darin eine Kenntniß der Geschichte, die nur aus ununterbrochnen Überlieferungen von den Zeiten der Völkerwanderung her, geschöpft seyn konnte, weil die römischen und griechischen Geschichtschreiber damals nicht zugänglich waren. Der einzige unter diesen, der den Attila von Angesicht zu Angesicht bey einer Gesandtschaft gesehen, Priscus, giebt eine Schilderung von dessen Hofe, die bis in die kleinsten Züge mit der in den Nibelungen übereinstimmt.
[10] Dieß ist nur eine leichte Andeutung von den historischen Forschungen, die mich beschäftigt haben, und die ich dem Publicum mitzutheilen gedenke, so bald sie reif sind.
Doch damit dieser Brief nicht ein Buch werde, muß ich hier schließen, und die übrigen Gegenstände, die Sie berühren, auf das nächstemal versparen.
Haben Sie die Güte, mich Herrn Fellenberg auf das angelegentlichste zu empfehlen. Wenn ich versäumt habe, ihn in Hofwyl zu besuchen, so war daran zuerst das Bedenken Schuld, das ich trug, die Zudringlichkeiten so vieler Fremden, die seine berühmten Anlagen zu sehen wünschen, durch die meinige zu vermehren; und nach seiner gütigen Einladung verhinderten mich bloß zufällige Umstände. Gewiß werde ich bey der ersten Gelegenheit nachhohlen, was ich hiedurch eingebüßt.
Empfangen Sie die Versicherung ausgezeichneter Hochachtung von Ihrem
ergebnen
A. W. Schlegel.
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