Verehrtester Herr Profeßor,
das Lied der Niebelungen ist allerdings in der von Ihnen beschriebenen Form unter den Handschriften des hiesigen ehemaligen Klosters vorhanden; aber ein Regirungsbeschluß, gegen den ich zu Ihren Gunsten fruchtlos um Exzeption eingekommen bin, verwehrt mir alle und jede Hinauslieferung von Manuskripten. Wohl aber bleibt Ihnen Durchsicht und Kollationierung am Orte selbst, in Person oder durch einen Beauftragten, verstattet. Wenn die Arbeit nicht allzusehr beschleuniget werden dürfte, oder bis zum neuen Jahr Aufschub litte, so könnte ich dieselbe meist unter meinen Augen verrichten laßen. Im Falle der Dringlichkeit aber weiß ich Ihnen keinen tauglicheren Mann in Vorschlag zu bringen, als [2] einen gewißen Hrn. Affsprung, einen ziemlich geschickten Philologen, und der in Lesung alter Handschriften nicht ungeübt ist.
Es ist mir ein wahres Vergnügen, auf diesem Wege Ihren Wünschen einigermaßen entsprechen zu können. Noch herzlicher hätte es mich gefreut, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen. Der vortreffliche Uebersetzer Shakspeareʼs, des spanischen Theaters, der Verfaßer des Ion u.s.w. hat längst meine ganze Verehrung, die ich ihm gerne werkthätig darthun möchte.
Noch muß ich Ihnen bemerken, daß schon Hr. Ludwig Tiek, der den Sommer voriges Jahrs mich und die hiesige Bibliothek besuchte, den besprochenen [3] Codex durchgesehen, und mit einer bereits mitgebrachten Abschrift, ich weiß nicht woher?, zusammengehalten hat. Er fand die Lesearten beträchtlich abweichend, und rühmte die Vollständigkeit des hiesigen Codex.
Ich habe die Ehre mit vollkommner Hochachtung zu seyn
Ihr bereitwilligster
C. Meyer
Kantonsarchivar u. ErziehungsRath in St Gallen.
[4] A Monsieur
Monsieur G. A. Schlegel,
Professeur, chez Madame
de Stael au chateau de
Coppet
Canton de Vaud prés de Geneve.