Teure Freundin! Ich schreibe Ihnen mit Absicht von hier, um den Brief von einem italienischen Ort datieren zu können. Zwar gehört er noch politisch zur Schweiz, aber Sprache, Aussehen der Menschen, selbst die Luft und die Vegetation – kurz: alles ist italienisch. Gestern früh steckten wir noch in der Grauen erregenden Einsamkeit und Eiswelt der Grimsel, und heute genießen wir schon die Segnungen des Südens. Beim Heraustreten aus einer gewundenen Felsenenge, durch die sich der Tessin in herrlichen Fällen stürzt, fanden wir sein Ufer plötzlich mit Gruppen von Edelkastanien bedeckt, während drüben auf der anderen Seite steile Bergrücken mit dunklen Fichtenwäldern sich aufreckten. So standen die beiden Klimate in vollem Gegensatz einander gegenüber. Obwohl die Landschaft noch gebirgig ist, hat sie doch etwas viel Weicheres als die Nordtäler. Dieser Zauber ergriff mich viel stärker, als ich erwartet hatte, zumal ich vorher von den Sitten und Bräuchen der deutschen Schweiz so begeistert gewesen war. Ich möchte Ihnen so gern schreiben können: ›Kommen Sie! ich erwarte Sie, wir geben uns ein Stelldichein auf der Isola-Bella!‹
Neun Tage sind wir jetzt unterwegs und haben wirklich eine schöne Strecke hinter uns gebracht. Vom Thuner See ab sind wir immer zu Fuß gewandert, wir marschieren wie die Rekruten. Immer wieder packt mich die Versuchung, dieses herrliche Tal bis zum Lago Maggiore hinunter zu wandern, aber wir müßten dann denselben Weg zurückgehen, und ich will nicht die Zeit vergeuden, die wir für die Urkantone angesetzt haben. Morgen werden wir also über den St. Gotthard zurückwandern und in drei Tagen in Luzern sein. Ich höre nichts von all dem, was in der Welt vorgeht. Die ersten Zeitungen, die ich seit Bern gesehen habe, hat mir ein Kapuziner im Hospiz am Fuß der Furka gegeben, aber ich könnte alle Zeitungen der Welt missen, wenn ich einen Brief von Ihnen hätte. Geduld bis Luzern! Ich habe Ihnen zweimal geschrieben: von Bern und von Meyringen. Wiederum scheint schönes Wetter meine Reise zu begünstigen. Davon hängt es natürlich in der Hauptsache ab, wieviel ich zu sehen bekommen werde. Ich glaube, ich werde Ihnen von Appenzell aus schreiben; allerdings ist dies ein Umweg, und ich werde dann nicht die Zeit haben, über Bern, Freiburg und die Val Sainte nach Vevey zurückzukehren. Aber darüber berichte ich Ihnen noch genauer, jedenfalls habe ich eine viel zu fromme Scheu, Ihre Befehle zu übertreten, als daß ich es wagen würde, den für die Rückkehr festgesetzten Tag, d. h. den 20. August, zu überschreiten.
Leben Sie wohl, liebe Freundin; tausend Grüße an Frau Récamier; ich küsse Albertine und bitte Sie, August herzlich von mir zu grüßen.